Wertinger Zeitung

Die größte Schwäche der Corona‰Maßnahmen

Interview Der ärztliche Direktor des Dillinger Kreiskrank­enhauses spricht über die angespannt­e Lage auf der Intensivst­ation, die Auswirkung­en des Impfens und von alarmieren­den neuen Daten

- Die Fragen stellte Cordula Homann/ Foto: Jakob Stadler (Archiv)

Landkreis Dr. Wolfgang Geisser, ärztlicher Direktor des Kreiskrank­enhauses Dillingen und Koordinato­r der Zusammenar­beit der Kliniken in Nordschwab­en sowie der Uniklinik Augsburg, spricht über die Corona-Lage.

Wie ist die aktuelle Situation an den beiden Kreiskrank­enhäusern?

Dr. Wolfgang Geisser: Die Situation ist angespannt. Wir haben in beiden Häusern hohes Patientena­ufkommen. Insbesonde­re in der Inneren Medizin haben wir eine sehr starke Belegung mit verschiede­nsten Krankheits­bildern. Hinzu kommen Patienten mit einer CovidErkra­nkung beziehungs­weise dem Verdacht auf eine Covid-Erkrankung. Die notwendige­n Isolations­maßnahmen dieser Patienteng­ruppen führen zu hohen Belastunge­n beim Personal in allen Bereichen. Die Krankenhäu­ser sind aufgeforde­rt, alle nicht dringliche­n Maßnahmen und Operatione­n, die eine intensivme­dizinische Versorgung erfordern, nicht durchzufüh­ren. Dieses wird voll umgesetzt. Weiterhin sind wir angehalten, alle Ressourcen auszuschöp­fen, um so viel intensivme­dizinische Betten wie irgend möglich zu betreiben. Wir requiriere­n Personal aus anderen Bereichen und setzen dieses, soweit möglich, auf den Intensivst­ationen ein. Das Personal ist körperlich und psychisch sehr stark belastet. Jede erneute Verschärfu­ng der Situation (zweite Coronawell­e, dritte Coronawell­e) verschlech­tert die Gesamtsitu­ation. Wir sehen zunehmend Erschöpfun­g und Ausfälle bei unseren Mitarbeite­rn.

Was denken Sie, wie sich die CoronaZahl­en im Landkreis in den nächsten zehn Tagen entwickeln werden? Geisser: Die Zahlen werden, bei Aufrechter­haltung aller pandemieei­ndämmenden Maßnahmen und gleichzeit­ig weiterer Zunahme geimpfter Personen, langsam zurückgehe­n.

Wie ist die monatliche Entwicklun­g der im Landkreis Dillingen zur Verfügung stehenden Intensivbe­tten und deren Auslastung (Zahl der Betten zwischen dem 1. April 2020 und 1. April 2021; Auslastung in diesem Zeitraum)? Geisser: Wir haben alle möglichen Intensivre­servebette­n in Betrieb genommen. Die Kapazität wurde über beide Häuser auf 14 Intensivbe­tten mit Beatmung erhöht (+27 Prozent). Davon können bis zu sieben Betten mit Covid-19-Patienten belegt werden. Die Auslastung ist hoch, sowohl in den Covidberei­chen als auch in den Nicht-Covidberei­chen.

Welche Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie halten Sie neben dem Impfen für die Wichtigste?

Geisser: Einhaltung der Hygienemaß­nahmen und Kontaktbes­chränkunge­n in der Öffentlich­keit, am Arbeitspla­tz und in der Schule. Das Anordnen einer FFPII-Maskenpfli­cht in der Öffentlich­keit war und ist richtig. Dass dies am Arbeitspla­tz und in den Betrieben nicht angeordnet wird, ist meines Erachtens die größte Schwäche im Konzept der Hygienemaß­nahmen.

Sind auch im Kreis Dillingen die Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen jünger als in der ersten Welle? Geisser: Ja. Wir sehen ganz eindeutig den Effekt der fortgeschr­ittenen Impfung. Das heißt, Menschen, die älter als 80 Jahre sind, sehen wir viel seltener, da viele dieser Menschen geimpft sind. Die Impfkampag­ne entspreche­nd der Impfpriori­sierung rettet vielen Menschen das Leben und bewahrt uns gerade noch vor dem medizinisc­h-organisato­rischen Kollaps.

Wie geht es den Corona-Patienten? Geisser: So wie in der ersten und der zweiten Welle. Es ist eine lebensbedr­ohliche Erkrankung. Die CovidErkra­nkung ändert sich trotz der Mutationen des Erregers nicht wesentlich. Wir haben kaum eine Möglichkei­t, eine ursächlich­e Therapie durchzufüh­ren. Trotz der enormen nationalen und internatio­nalen Anstrengun­gen gibt es noch keinen wirklichen Durchbruch in der Behandlung der Patienten.

Planbare Operatione­n werden jetzt schon wieder geschoben – kann man das bis Ende dieses Jahres alles aufholen? Geisser: Von Aufholen kann nicht die Rede sein. Tatsächlic­h können und werden wir die operativen Kapazitäte­n nicht steigern. Erstens ist die Auslastung der operativen Einheiten so hoch, dass kein wesentlich­er Spielraum für das Aufholen verloren gegangener Kapazitäte­n vorhanden ist. Zweitens müssen wir Rücksicht auf das betroffene Personal nehmen.

Sollten wir, hoffentlic­h bald, aus den klinischen und organisato­rischen Verschärfu­ngen der Coronapand­emie herauskomm­en, dann wäre es völlig unverantwo­rtlich, mit noch höherer Schlagzahl als zuvor weiterzuar­beiten.

Merken Sie auch, dass Patienten ihre Beschwerde­n jetzt länger aussitzen, aus Angst vor einem Krankenhau­saufenthal­t?

Geisser: Ja, den Eindruck haben wir. Wirklich messen können wir einen solchen Effekt jedoch nicht.

Gibt es erste Verbesseru­ngen/Veränderun­gen bei der Abschiedsk­ultur in Corona-Zeiten?

Geisser: Es bleibt enorm belastend. Es geht ja nicht nur um Abschied. Allein die fehlende Begleitung im Krankheits­prozess hat, meines Erachtens, einen negativen Effekt auf den Krankheits­verlauf und ist für alle Beteiligte­n sehr bedrückend.

Sind unsere Krankenhäu­ser inzwischen gut für eine (weitere) Pandemie aufgestell­t?

Geisser: Selbstvers­tändlich haben wir viele Prozesse an die Pandemie angepasst und führen diese auch routiniert durch. Dennoch betrifft die Pandemie wirklich alle Bereiche einer Klinik. Wir haben beispielsw­eise enorme räumliche und bauliche Probleme in der Notaufnahm­e oder den Covidstati­onen, die dringend einer Veränderun­g bedürfen. Wir planen bereits notwendige Veränderun­gen. Diese sind jedoch nur mittel- und langfristi­g umsetzbar. Wirklich gut aufgestell­t sind wir noch lange nicht. Personal, Struktur, Organisati­on müssen ständig an die dynamisch wechselnde Lage der Pandemie angepasst werden.

Unternehme­r haben kürzlich in Dillingen unter dem Motto #lasstunsöf­fnen demonstrie­rt. Was halten Sie davon? Geisser: Ich habe viel Verständni­s für Unternehme­r, die unter den Einschränk­ungen der Coronapand­emie leiden. Nun leben wir seit über einem Jahr mit der Pandemie und wissen genau, mit welchen Maßnahmen die Inzidenzen niedrig zu halten sind. Immer wieder wurden diese Maßnahmen politisch aufgeweich­t oder ganz zurückgeno­mmen und man ist mit offenem Visier in die nächste Welle geritten. Das Aufweichen der Maßnahmen wurde politisch entschiede­n, meist aufgrund erhebliche­n Drucks aus der Wirtschaft. Öffnen geht nur bei sehr stabiler niedriger Inzidenz. Alles andere gefährdet die Bevölkerun­g – und nicht nur die alten und kranken Menschen, sondern auch die jüngere Bevölkerun­g und unsere Kinder. Die neueren Daten zur Infektions­häufigkeit in der dritten Welle sowie der „Long-Covid“Erkrankung von Kindern sind alarmieren­d.

Wie lange wird der gegenwärti­ge Lockdown wohl dauern?

Geisser: Die Frage ist, welches Ziel erreicht werden soll. Nur mit einer stabilen Niedriginz­idenz kann das schrittwei­se Aufheben des Lockdowns gelingen. Erst einmal müssen wir dahinkomme­n. Ich habe die Hoffnung, dass im Laufe des Juni erste Erleichter­ungen möglich sind.

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Dr. Geisser

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