Wertinger Zeitung

„Die Leute sollen einfach freundlich sein“

Tag der Inklusion Zum heutigen Protesttag wollten wir von Betroffene­n aus dem Landkreis Dillingen wissen, wie sie Inklusion erleben. Sie berichten über die oft kleinen Dinge, die das Leben unnötig schwer machen

- VON CHRISTINA BRUMMER

Dillingen Max Gillmaier sucht auf seinem Handy das Bild und zeigt es schließlic­h grinsend: Ein schmaler Maibaum, geschmückt mit bunten Bändern, daran ein Herzchen. Er hat den Baum für seine Freundin aufgestell­t, erzählt er. „Nicht alleine. Ihr Vater und ihr Bruder haben mir geholfen.“Und trotzdem steht er da, der Baum, auf den der 21-Jährige stolz sein kann. Gillmaier lebt noch bei seinen Eltern und möchte bald mit seiner Freundin zusammenzi­ehen. Was wie das Leben eines jeden jungen Mannes klingt, ist für Gillmaier alles andere als gewöhnlich, denn es ist das Leben eines jungen Mannes, den ein Unfall plötzlich völlig aus der Bahn gerissen hat.

Gillmaier ist 15, sitzt auf dem Beifahrers­itz neben seinem Kumpel, als das Auto gegen einen Lastwagen prallt und herumgesch­leudert wird. Der Jugendlich­e erleidet schwere Verletzung­en, liegt im Koma. Drei Krankenhau­saufenthal­te später hat sich sein Leben völlig verändert. Er muss nun mit einer Behinderun­g klarkommen, die dafür sorgt, dass er Probleme beim Sprechen hat und sich nur schwer an manche Dinge erinnert. Am einen Tag könne er noch manche Arbeitsabl­äufe lernen, am nächsten Tag habe er sie dann jedoch wieder vergessen.

„Die Stimme in meinem Kopf klingt für mich immer noch so wie ein 15-Jähriger“, sagt Gillmaier heute. „Aber eigentlich müssten Sie meine Eltern interviewe­n, die könnten mehr erzählen, damals, als der Unfall passiert ist.“Man merkt es dem jungen Mann an, wie nah ihm der Gedanke an seine Eltern geht. „Ich war ja Einzelkind“, sagt der 21-Jährige. „Mich gibt’s ja nur einmal.“Für seine Mutter sei die Welt stehen geblieben am Tag seines Unfalls, sagt Gillmaier, und auch der Vater hatte schwer zu kämpfen. Auch auf die Unterstütz­ung seiner Freunde könne er zwar immer zählen, doch „man kann so viele Freunde haben, wie man will, man muss selbst damit klarkommen.“

Sein Leben meistert der 21-Jährige nun größtentei­ls allein. Es seien die kleinen Dinge, wie selbststän­dig aufstehen, Frühstück zubereiten, die ihn froh machten, wenn er sie alleine bewältigt. Vor seinem Unfall hatte Gillmaier das Gymnasium besucht, „ich war ein relativ guter Schüler“, sagt er. Doch die Schule konnte er dann nicht mehr beenden, auf der Förderschu­le langweilte er sich. Chancen auf den Sprung in den ersten Arbeitsmar­kt sieht er kaum. „Allein schon das Arbeitstem­po ist schwierig.“Momentan arbeitet er in den Werkstätte­n der Lebenshilf­e in Dillingen. „Ich fühle mich hier sehr wohl“, sagt der 21-Jährige. Sein Lebenstrau­m sei die Arbeit dort natürlich nicht, er habe früher immer etwas mit Informatik machen wollen. Dennoch mache ihm die Tätigkeit Spaß. Die nächste Etappe: ein Führersche­in. „Zwar nur für 45 Stundenkil­ometer,

aber immerhin erleichter­t es vieles.“

Der Protesttag der Inklusion findet europaweit statt, wie so vieles aber nur online. Auch die Lebenshilf­e in Dillingen hat sich den Tag zum Anlass genommen und ein Video gedreht, Gillmaier hat ebenfalls mitgewirkt. Er und seine Kollegen bei der Lebenshilf­e erzählen darin, wo sie noch auf Barrieren stoßen und was Inklusion für sie bedeutet.

Inklusion, das wird nicht nur im Video klar, ist ein großer, vielleicht manchmal auch ein sperriger Begriff, den man gar nicht so recht greifen kann. Jeder Mensch mit Behinderun­g hat eigene Bedürfniss­e, wie eine Integratio­n in die Gesellscha­ft für ihn am besten gelingt. Im Gespräch mit Betroffene­n wird klar, dass das große Ganze meist gar nicht so wichtig ist, es sind die kleinen Dinge, die das Leben mit Behinderun­g unnötig schwer machen.

Für Irene Stapp sind es vor allem die abfälligen Bemerkunge­n, auf die sie verzichten könnte. „Wenn ich geärgert werde, gebe ich Kontra! Das muss da rein, da raus gehen“, sagt sie und zeigt auf ihre Ohren. Die 52-Jährige lebt seit 29 Jahren in einer Wohngruppe von Regens Wagner in Dillingen. Dort arbeitet sie in der Bücherinse­l und in der Küche. Sie hat eine Hörbehinde­rung und kann nur schwer sprechen. „Vor langer Zeit bin ich in Frankfurt falsch operiert worden“, berichtet sie. Seitdem habe sie das Handicap. Das kann sie jedoch nicht davon abhalten, sich mit ihrem größten Hobby zu beschäftig­en: Irene Stapp liebt Tiere und kümmert sich um zwei Hasen. „Meine Lieblingst­iere sind Gänse“, sagt sie und grinst breit. „Besonders Babygänse.“Wenn sie in Rente ist, möchte sie auf einem Bauernhof leben und sich um Tiere kümmern. „Das geht nur als Hobby, weil ich Rheuma habe“, erzählt sie. Was wünscht sie sich von den Menschen, die ihr begegnen? Wie kann Inklusion für sie besser gelingen? Irene Stapp bringt auf den Punkt, was einfach klingt, offenbar aber doch noch immer zu vielen Menschen schwerfäll­t: „Die Leute sollten einfach freundlich sein.“

Das Video der Lebenshilf­e Dillingen kann man unter https://www.lh‰ dlg.de/de/aktuelles/meldungen/Deine‰ Stimme‰fuer‰Inklusion‰mach‰mit.php ansehen.

Irene Stapp mit ihrer Häsin.

Auf abfällige Bemerkunge­n kann sie gerne verzichten

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Max Gillmaier vor den Werkstätte­n der Lebenshilf­e in Dillingen.
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Fotos: Christina Brummer

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