Kampfkunsttrainer will Geständnis widerrufen
Justiz Der 52-jährige Angeklagte stand bereits wegen dem Vorwurf der Vergewaltigung vor Gericht, nun muss er erneut erscheinen, nachdem sich ein weiteres Opfer meldete. Er überrascht die Richter mit einem unerwarteten Sinneswandel
Augsburg Verfahrensabsprache, Strafrahmen, Geständnis – es war alles bereitet für ein schnelles Verfahren gegen einen 52-jährigen Angeklagten. Jetzt aber ließ der Kampfkunsttrainer die Sache platzen, indem er ankündigte, sein Geständnis zu widerrufen. Dem Angeklagten wird erneut vorgeworfen, eine junge Frau, eine seiner Schülerinnen, vergewaltigt zu haben.
Im September 2020 stand der heute 52-Jährige zum ersten Mal vor Gericht, Vergewaltigung lautete schon damals der Vorwurf. Der Angeklagte hatte während des Trainings eine seiner Schülerinnen sexuell missbraucht, eine weitere erheblich verletzt. Eine Verfahrensabsprache samt seinem Geständnis ersparte damals dem Sporttrainer den Weg ins Gefängnis. Seine zweijährige Freiheitsstrafe wurde vom Amtsrichter unter Auflagen zur Bewährung ausgesetzt.
Die Berichterstattung über das Verfahren in unserer Zeitung las eine heute 22-jährige Studentin, die zwischen September 2016 und Mai 2017 ebenfalls Schülerin – und Opfer – des 52-Jährigen war. Und sie beschloss, so wurde es am Rande des aktuellen Verfahrens bekannt, sich der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“anzuvertrauen. Denn auch die Studentin hatte nach eigenen Angaben schlimme Übergriffe durch den Kampfkunsttrainer zu erdulden. Schon wenige Wochen, nachdem er im vergangenen September sein Urteil erhalten hatte, tauchte wieder die Polizei beim Angeklagten auf. Aufgrund der neuen Vorwürfe wurde er im Oktober 2020 in Untersuchungshaft genommen. Wegen der Beschränkungen durch die Corona-Pandemie hatte der türkischstämmige 52-Jährige die Trainingsorte seines Kampfkunstverbandes in Augsburg und Gersthofen vorübergehend schließen müssen. Partnerschulen hatte es unter anderem auch in Aichach und Friedberg gegeben.
Nun also das zweite Verfahren wegen Vergewaltigung, diesmal vor dem Augsburger Landgericht. Das lief am ersten Verhandlungstag noch so ab wie viele solche Verfahren. Nach Verlesen der Anklageschrift baten die Verteidiger Stefan Mittelbach und Klaus Rödl das Gericht um ein Rechtsgespräch mit der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage hinter verschlossener Tür. Man einigte sich, stellte dem Angeklagten eine Gesamtfreiheitsstrafe zwischen vier Jahren und acht Monaten und fünf Jahren und sechs Monaten in Aussicht. Der Angeklagte erfüllte seinen Teil der Absprachen, gestand alle ihm vorgeworfenen Taten wie angeklagt. Und er zahlte 10.000 Euro Schmerzensgeld an die geschädigte Studentin (Nebenklägervertreterin Isabel Kratzer-Ceylan).
Die Studentin wartet indes draußen vor dem Sitzungssaal. Zwar erspart ihr das Geständnis des Angeklagten eine Befragung zu den Übergriffen. Aber das Gericht will von ihr etwas über die Spätfolgen durch das Tun des Angeklagten erfahren. Der lässt seinerseits das Gericht durch seine Verteidiger bitten, sich zuvor mit den im Zuschauerbereich sitzenden Angehörigen – Ehefrau, mehrere Kinder, Bekannte – besprechen zu dürfen. Zweimal gibt Richter Christian Grimmeisen dieser Bitte statt, jedes Mal scheint die Überzeugung des Angeklagten mehr gefestigt: Sein Geständnis ist nicht der richtige Weg, er müsste eine Lüge begehen, er müsste aus seiner Sicht falsche Anschuldigungen hinnehmen. Folglich seine Erklärung: Er sei am ersten Verhandlungstag „überfordert“gewesen, als er seinem von den Verteidigern vorgetragenen Geständnis zugestimmt habe. Dem könne er heute nicht mehr folgen. Er liebe seine Kinder, seine Familie, nie mehr könne er ihnen in die Augen schauen, wenn er jetzt ein derartiges Geständnis ablegen würde. Er widerrufe es.
So wie seine offenbar nicht eingeweihten und entsprechend überraschten Verteidiger steht auch vorsitzender Richter Grimmeisen plötzlich vor einer neuen Situation. Grimmeisen appelliert an den Angeklagten, sich gut zu überlegen, was er tue. Freilich wolle die Kammer kein unzutreffendes Geständnis. Aber ein Geständnis habe er immerhin schon einmal abgegeben und auch die schon erfolgte Zahlung von 10.000 Euro Schmerzensgeld könne als ein gewisses Bekenntnis gesehen werden. Er, der Angeklagte, solle sorgfältig abwägen zwischen seinem Ehrgefühl und einem mangels Geständnis zu erwartenden längeren Verfahren mit umfangreicher Beweisaufnahme. Dabei habe das Gericht wohl nicht nur die 22-jährige Studentin zu den Übergriffen zu befragen, sondern auch die Opfer aus dem vorangegangenen Verfahren. Der genannte Strafrahmen würde hinfällig, je nach der Schwere der Schuld könnten über acht Jahre Haft in Betracht kommen.
Noch eine letzte Brücke baut Grimmeisen dem Angeklagten zur Rückkehr in den anfänglich ausgehandelten „Deal“: Der Angeklagte beabsichtige, sein Geständnis zu widerrufen, diktiert der Richter fürs Protokoll und unterbricht die Verhandlung bis zum bereits angesetzten nächsten Termin. Dann aber könne es keine Beratungen mehr im Familienkreis geben, dann erwarte das Gericht eine klare Position des Angeklagten.