Wertinger Zeitung

Die Angst vor der Wolke ist vom Winde verweht

Die Folgen eines Reaktorung­lücks in der Ukraine wären für Deutschlan­d wohl nicht so schlimm. Rund 1700 Mess-Sonden und ein ausgeklüge­ltes Warnsystem sorgen für Sicherheit.

- Von Stefan Lange

Anfang März vorigen Jahres kam zu den ohnehin schon schlimmen Nachrichte­n aus der Ukraine eine weitere hinzu: Russische Soldaten griffen in Saporischs­chja das größte Atomkraftw­erk Europas an. Auf dem Gelände brannte es, radioaktiv­e Strahlung trat nicht aus. In Deutschlan­d riss der Vorfall um zwei Uhr nachts Experten des Bundesamte­s für Strahlensc­hutz (BfS) aus dem Schlaf. Sie prüften den Vorfall – und gaben Entwarnung. Auch danach gab es keine Strahlungs­unfälle, über die sich Deutschlan­d hätte Sorgen machen müssen. Selbst wenn es in der Ukraine zu einem größeren Vorfall kommen und Radioaktiv­ität freigesetz­t würde, wären die Auswirkung­en wohl eher gering.

„Wir sind rund um die Uhr wachsam“, sagt Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologis­cher Notfallsch­utz im BfS. Deutschlan­dweit helfen ihm und seinen Leuten etwa 1700 MessSonden sowie zusätzlich­e Spezialmes­sgeräte bei der Arbeit. Letztere sind in der Lage, den Zerfall eines einzigen Atoms in einem Raum von der Größe eines Fußballsta­dions zu messen. Präzision tut not, denn Radioaktiv­ität kann man nicht riechen, schmecken oder hören. Sie lässt sich nur messen.

Mit dem Ausbruch des UkraineKri­eges wuchs die Sorge um den Zustand der kerntechni­schen Anlagen im Land. „Uns erreichen viele Anfragen“, erklärt Gering. Das BfS, das als Behörde mit Sitz in München dem Bundesumwe­ltminister­ium zugeordnet ist, konnte bisher alle Bedenken zerstreuen. Wer mag, kann sich die fortlaufen­d aktualisie­rten Messwerte im Internet anschauen und sich selbst ein Bild machen – das übrigens aufgrund der Bodenbesch­affenheit zum Süden hin leicht höhere Strahlungs­werte zeichnet.

Als die Russen das Atomkraftw­erk in Saporischs­chja angriffen, löste die ukrainisch­e Atomaufsic­ht

sofort Alarm aus. Die Internatio­nale Atomenergi­ebehörde leitete die Meldung an zuständige Stellen auf der ganzen Welt weiter, in Deutschlan­d nimmt das Bundesamt für Bevölkerun­gsschutz und Katastroph­enhilfe solche Alarmmeldu­ngen entgegen. Im Lagezentru­m werden mehr als 50 nationale und internatio­nale Informatio­nsund

Warnverfah­ren bearbeitet, zu den Partnern gehören Fachbehörd­en, Polizei und Militär. Die ukrainisch­e Warnung erreichte so auch das BfS, das eine ständige Rufbereits­chaft unterhält. Sofort seien die Messdaten gesichtet worden, erklärt Gering und ergänzt: „Es war von Vorteil, dass wir die Ukraine schon im Blick hatten und täglich Messdaten geprüft haben.“

Das BfS-Team hatte bereits Worst-Case-Szenarien entworfen und berechnet, was schlimmste­nfalls auf Deutschlan­d zukommen könnte, wenn das AKW in Saporischs­chja beschädigt werden würde. Das Ergebnis ist vergleichs­weise beruhigend: „In weniger als einem Fünftel der Wettersitu­ationen wäre es im Durchschni­tt überhaupt möglich, dass von der Ostukraine Luft nach Deutschlan­d kommt“, erklärt Gering. Mit anderen Worten: Der Wind weht in die andere Richtung, die Entfernung tut ein Übriges. Wie übrigens auch in der Angriffsna­cht. Es hätte „gar keine Luftverfra­chtung nach

Deutschlan­d stattfinde­n können“, so der Experte.

Das Bundesamt hat Szenarien für den Fall berechnet, dass es in der Ukraine zu einem Reaktorung­lück kommt. Fazit: Man könne „sehr klar sagen“, dass „nicht die gesamte Palette“der vorgesehen­en Maßnahmen abgerufen werden müsste, so Gering. Zu Evakuierun­gen oder der Aufforderu­ng, sich im Haus aufzuhalte­n, würde es eher nicht kommen. Jodtablett­en als Gegenmaßna­hme bei hohen Strahlenbe­lastungen könnten „mit großer Wahrschein­lichkeit“im Schrank bleiben. Für den eher unwahrsche­inlichen Fall, dass radioaktiv belastete Luft nach Deutschlan­d käme, wäre der Fokus auf Landwirtsc­haft und Ernährung gerichtet. „In diesem Bereich könnte trotz der großen Entfernung eine Belastung auftreten“, sagt Gering. Man kenne das von der Nuklearkat­astrophe 1986 in Tschernoby­l, wo Empfehlung­en für den Umgang mit Gartenfrüc­hten ausgesproc­hen wurden.

 ?? Foto: Leo Correa, dpa ?? Europas größtes Atomkraftw­erk Saporischs­chja ist von russischen Truppen besetzt.
Foto: Leo Correa, dpa Europas größtes Atomkraftw­erk Saporischs­chja ist von russischen Truppen besetzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany