Die Angst vor der Wolke ist vom Winde verweht
Die Folgen eines Reaktorunglücks in der Ukraine wären für Deutschland wohl nicht so schlimm. Rund 1700 Mess-Sonden und ein ausgeklügeltes Warnsystem sorgen für Sicherheit.
Anfang März vorigen Jahres kam zu den ohnehin schon schlimmen Nachrichten aus der Ukraine eine weitere hinzu: Russische Soldaten griffen in Saporischschja das größte Atomkraftwerk Europas an. Auf dem Gelände brannte es, radioaktive Strahlung trat nicht aus. In Deutschland riss der Vorfall um zwei Uhr nachts Experten des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) aus dem Schlaf. Sie prüften den Vorfall – und gaben Entwarnung. Auch danach gab es keine Strahlungsunfälle, über die sich Deutschland hätte Sorgen machen müssen. Selbst wenn es in der Ukraine zu einem größeren Vorfall kommen und Radioaktivität freigesetzt würde, wären die Auswirkungen wohl eher gering.
„Wir sind rund um die Uhr wachsam“, sagt Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz im BfS. Deutschlandweit helfen ihm und seinen Leuten etwa 1700 MessSonden sowie zusätzliche Spezialmessgeräte bei der Arbeit. Letztere sind in der Lage, den Zerfall eines einzigen Atoms in einem Raum von der Größe eines Fußballstadions zu messen. Präzision tut not, denn Radioaktivität kann man nicht riechen, schmecken oder hören. Sie lässt sich nur messen.
Mit dem Ausbruch des UkraineKrieges wuchs die Sorge um den Zustand der kerntechnischen Anlagen im Land. „Uns erreichen viele Anfragen“, erklärt Gering. Das BfS, das als Behörde mit Sitz in München dem Bundesumweltministerium zugeordnet ist, konnte bisher alle Bedenken zerstreuen. Wer mag, kann sich die fortlaufend aktualisierten Messwerte im Internet anschauen und sich selbst ein Bild machen – das übrigens aufgrund der Bodenbeschaffenheit zum Süden hin leicht höhere Strahlungswerte zeichnet.
Als die Russen das Atomkraftwerk in Saporischschja angriffen, löste die ukrainische Atomaufsicht
sofort Alarm aus. Die Internationale Atomenergiebehörde leitete die Meldung an zuständige Stellen auf der ganzen Welt weiter, in Deutschland nimmt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe solche Alarmmeldungen entgegen. Im Lagezentrum werden mehr als 50 nationale und internationale Informationsund
Warnverfahren bearbeitet, zu den Partnern gehören Fachbehörden, Polizei und Militär. Die ukrainische Warnung erreichte so auch das BfS, das eine ständige Rufbereitschaft unterhält. Sofort seien die Messdaten gesichtet worden, erklärt Gering und ergänzt: „Es war von Vorteil, dass wir die Ukraine schon im Blick hatten und täglich Messdaten geprüft haben.“
Das BfS-Team hatte bereits Worst-Case-Szenarien entworfen und berechnet, was schlimmstenfalls auf Deutschland zukommen könnte, wenn das AKW in Saporischschja beschädigt werden würde. Das Ergebnis ist vergleichsweise beruhigend: „In weniger als einem Fünftel der Wettersituationen wäre es im Durchschnitt überhaupt möglich, dass von der Ostukraine Luft nach Deutschland kommt“, erklärt Gering. Mit anderen Worten: Der Wind weht in die andere Richtung, die Entfernung tut ein Übriges. Wie übrigens auch in der Angriffsnacht. Es hätte „gar keine Luftverfrachtung nach
Deutschland stattfinden können“, so der Experte.
Das Bundesamt hat Szenarien für den Fall berechnet, dass es in der Ukraine zu einem Reaktorunglück kommt. Fazit: Man könne „sehr klar sagen“, dass „nicht die gesamte Palette“der vorgesehenen Maßnahmen abgerufen werden müsste, so Gering. Zu Evakuierungen oder der Aufforderung, sich im Haus aufzuhalten, würde es eher nicht kommen. Jodtabletten als Gegenmaßnahme bei hohen Strahlenbelastungen könnten „mit großer Wahrscheinlichkeit“im Schrank bleiben. Für den eher unwahrscheinlichen Fall, dass radioaktiv belastete Luft nach Deutschland käme, wäre der Fokus auf Landwirtschaft und Ernährung gerichtet. „In diesem Bereich könnte trotz der großen Entfernung eine Belastung auftreten“, sagt Gering. Man kenne das von der Nuklearkatastrophe 1986 in Tschernobyl, wo Empfehlungen für den Umgang mit Gartenfrüchten ausgesprochen wurden.