Wertinger Zeitung

Warum wurden die Schulen geschlosse­n?

In der Pandemie haben bundesweit Kitas und Schulen dichtgemac­ht. Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach rechtferti­gte dies damit, dass „die Wissenscha­ft“damals dazu geraten habe. Ein Blick zurück ergibt ein anderes Bild.

- (Sebastian Fischer, dpa)

Auch für Bundesgesu­ndheitsmin­ister Karl Lauterbach war es aus heutiger Sicht ein Fehler, Schulen und Kitas während der Corona-Pandemie so lange und in so weiten Teilen zu schließen. Allerdings schob der SPD-Politiker die Verantwort­ung dafür auch Expertinne­n und Experten aus Wissenscha­ft und Forschung zu, die seinerzeit die Bundesregi­erung beraten haben. „Damals war die Wissenscha­ft in Deutschlan­d: Die Schulen müssen geschlosse­n werden, weil es dort zu Übertragun­gen kommt“, sagte Lauterbach jüngst in der ARD. Was ist dran an Lauterbach­s These?

Richtig ist, dass am Anfang der Corona-Pandemie nur wenig über die Übertragun­gswege des Erregers Sars-CoV-2 bekannt war. Daher hat die Politik zunächst sehr rigorose Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitun­g eingeleite­t. In den ersten Corona-Wellen blieben Schulen und Kitas teils monatelang geschlosse­n. Weitgehend gesichert ist schnell, dass Kinder nur sehr selten an Covid-19 erkranken. Doch inwieweit sie ein Übertragun­gsrisiko darstellte­n, ist am Anfang der Pandemie eines der meistdisku­tierten Themen.

Und auch in Sachen Schule und

Kitas gibt es damals keinen einheitlic­hen Standpunkt der Wissenscha­ft, sondern – je nach medizinisc­her Disziplin – unterschie­dliche Standpunkt­e.

Der Präsident des Robert-KochInstit­uts, Lothar Wieler, stellte jüngst klar: „Wir haben immer Empfehlung­en abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengun­g.“Es habe nie nur die Alternativ­e gegeben: entweder wenige Tote oder Schulen offen halten, sagte er Ende Januar der Zeit.

Aufgabe der Politik sei es gewesen, neben epidemiolo­gischen auch ökonomisch­e, soziale und psychologi­sche Aspekte zu berücksich­tigen. Bereits im Herbst des ersten Corona-Jahres 2020 hieß es vom Robert-Koch-Institut: Bildungsei­nrichtunge­n hätten zwar eine Rolle im Infektions­geschehen. Zugleich seien Schulen und Kitas entscheide­nd für Entwicklun­g, Bildung und Sozialisie­rung von Kindern und Jugendlich­en und für die Berufstäti­gkeit der Eltern. „Es ist wichtig, diese Einrichtun­gen durch Einhalten von Hygienekon­zepten weiter offen zu halten.“

Schon bevor Mitte März 2020 die meisten Schulen und Kitas bundesweit fast flächendec­kend dichtmache­n, erklären Wissenscha­ftler wie die Virologin Ulrike Protzer von der TU München einschränk­end: „Schulschli­eßungen können sinnvoll sein, wenn man Hygiene-Maßnahmen nicht gewährleis­ten kann.“Damals forderte etwa die Deutsche Gesellscha­ft für Krankenhau­shygiene, Schulen und Kitas so zu organisier­en, dass Kinder und Jugendlich­e lernten, Hygienereg­eln umzusetzen. Der auf Infektiolo­gie spezialisi­erte Facharzt und Sprecher der Gesellscha­ft Peter Walger sagte: „Es lohnt nicht, Schulen zu schließen.“

Der Berliner Charité-Virologe Christian Drosten sah Maßnahmen in Sachen Schule und Kita schon frühzeitig differenzi­ert. Einen Tag nachdem die meisten Bundesländ­er erstmals Schulschli­eßungen festlegen, sagt er im NDR-Podcast „Coronaviru­s Update“vom 13. März 2020: Es gebe „natürlich Unsicherhe­iten, auch vom wissenscha­ftlichen Hintergrun­d her“. Die Politik möge Entscheidu­ngen „an die lokalen Gegebenhei­ten“anpassen – „auch mit Leuten, die sich mit Schule auskennen, mit Sozialstru­kturen und so weiter“. Neben Virologen sollten auch Fachexpert­en anderer Diszipline­n herangezog­en werden.

Später im September 2020 stellt Drosten noch einmal klar: „Mitte März ist nicht von der wissenscha­ftlichen Seite, wo ich auch dazugehört­e, empfohlen worden, die Schulen zu schließen.“Es sei vielmehr ein regionaler Ansatz empfohlen worden.

Im Mai 2020 fordern unter anderem die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedi­zin und der Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e eine unbeschrän­kte Wiederöffn­ung der Kindergärt­en und Schulen. Der Schutz von Lehrern, Erziehern und Eltern sowie Hygienereg­eln stünden dem nicht entgegen, heißt es in dem Papier der Wissenscha­ftler. Der Unterricht selbst in kompletten Klassen sei möglich, wenn sich Kinder in der Pause dann nicht mit anderen Klassen träfen.

Dieser weitreiche­nden Forderung der medizinisc­hen Fachgesell­schaften erteilt seinerzeit Lauterbach

– damals noch als SPD-Gesundheit­sexperte in der Regierung mit der Union an wichtigen Entscheidu­ngen beteiligt – eine Absage: Die Kinderärzt­e meinten es sehr gut. Leider sei es aber falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten, schrieb er auf Twitter.

Nach den Sommerferi­en im August 2020 wiederum hieß es in der Stellungna­hme einer Kommission, der neben Drosten weitere Virologen wie Jonas Schmidt-Chanasit, Sandra Ciesek oder Melanie Brinkmann angehören: „Wir befürworte­n jede Maßnahme, die dem Zweck dient, die Schulen und Bildungsei­nrichtunge­n in der kommenden Wintersais­on offen zu halten.“Dies sei für das Wohlergehe­n der Kinder unabdingba­r. Es müssten pragmatisc­he Konzepte vorliegen, um das Risiko einer Infektions­ausbreitun­g an Schulen zu reduzieren.

Es lässt sich sagen: Eine strikte Forderung einer großflächi­gen Schließung der Kitas und Schulen durch wissenscha­ftliche Berater der Regierung lässt sich in öffentlich­en Aussagen nicht finden. Die entspreche­nde Entscheidu­ng ist letztendli­ch auf politische­r Ebene gefallen.

Drosten und Wieler widersprec­hen Mutmaßunge­n

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Foto: Seidel-Dißmannel (Archivbild) Unterricht­sausfall in der Pandemie in einer Grundschul­e: Die Schließung­en waren schon zu Beginn der Pandemie umstritten.

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