Conrad Ferdinand Meyer: Der Heilige (32)
Novelle von C. F. Meyer
England im Hochmittelalter: Unverzichtbare rechte Hand für König Heinrich II. ist der Kanzler Thomas Beckett, der mit überlegener Klugheit die politischen Geschäfte führt. Als der sinnenfrohe König jedoch durch einen Zufall die ihm bisher verborgen gebliebene Tochter Becketts entdeckt und sie verführt, nimmt das Unheil seinen Lauf …
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Meinem Herrn und Könige wurde berichtet, sein Kanzler habe alle Pracht des weltlichen Lebens mit einem Male und gänzlich von sich getan.Zu dem üblichen Gastmahle seiner Bischofsweihe habe er gegen alle Art und Sitte nicht seine Brüder, die Bischöfe, und übrige vornehme Pfaffheit nebst der Blüte des normännischen Adels geladen, sondern er habe Armut und Schwären, die Bettler und Krüppel von den Landstraßen und Zäunen holen lassen, um seine weiten Säle und seine bischöfliche Tafel würdig zu füllen.
Der König hielt dieses staunenswerte Ereignis für erfunden oder wenigstens von den Neidern und Feinden seines Lieblings ins Große getrieben. Er machte sich über seine normännischen Hofleute lustig, die solches neue und unerhörte Ding verdroß. ,Herren‘, schäkerte er mit ihnen, ,das müßt ihr meinem Kanzler schon lassen, über Miene und schickliche Tracht jeden Standes weiß er Bescheid. In allem zeigt er Geschmack! Euch hat er in der Vollendung des Höflings vorgeleuchtet und euch alle an feinem ritterlichen Anstand übertroffen. Jetzt gibt er seinen neuen Standesgenossen, den Bischöfen, das hohe Beispiel der echten apostolischen Lebensart. Ein seltener, oh, ein einziger Mann!‘
Als neue Kunden die erste bestätigten, hinzufügend, der Primas habe sein kostbares Bischofsgewand gleich nach der feierlichen Handlung der Weihe wieder abgelegt und wandle mit magerem, verfastetem Angesicht in einer groben Kutte durch die Straßen von Canterbury, seine Gäste, die sächsischen Bettler, wo er gehe und stehe, hinter sich herziehend, da wurde Herr Heinrich unsicher, und die scherzhaften Anwandlungen vergingen ihm; doch bald hatte er erraten, daß der unvergleichlich Kluge die Maske eines heiligen Mannes nur vorgenommen, um gegen den Papst in den bevorstehenden Unterhandlungen über die geistliche Gerichtsbarkeit in Engelland eine Macht zu gewinnen.
Immerhin beschloß er, selbst zu der Sache zu sehen, und beschleunigte seine Überfahrt nach Engelland.
Unterwegs zwischen Dover und London wurde er zu wiederholten Malen von normännischen Herren erwartet und um Recht angerufen gegen den neuen Primas, seinen Kanzler, der sich weigere, ihnen ihre entlaufenen sächsischen Knechte zurückzugeben, welche – so klagten die Herren – jetzt haufenweise den Klöstern zueilen, um sich das Haupt scheren zu lassen; wozu Herr Heinrich mißmutig das seinige schüttelte.
Am Morgen nach seiner Ankunft in Windsor versammelte sich in der großen Halle des Schlosses aller Adel, um die heimgekehrte Majestät zu begrüßen. Sie schlummerte noch. Ich aber bewachte die Tür, durch welche mein König in die Halle zu treten pflegte und von wo sich die glänzende Versammlung leicht überschauen ließ.
Unter all den Herren war von nichts anderem die Rede als von der unerklärlich plötzlichen Verwandlung des Herrn Thomas. Sie waren gespannt auf seine Erscheinung; denn sie wußten, daß er kommen würde, die Majestät zu begrüßen, und unterhielten sich lebhaft mit gedämpften Stimmen, wie es sich in königlichen Gemächern geziemt. Nur Herr Rollo, der Greis, der sie alle um Haupteslänge überragte, tat sich keine Gewalt an, und seine Rede grollte wie ein dumpf rollender Donner.
Er stand auf der rechten Seite des Saales in einem Kreise bejahrter Herren, die hagerste, trockenste Gestalt unter ihnen, und lästerte nach seiner Art gegen die Gesamtheit der Geschorenen und den neuen Primas insbesondere.
,Nie traute ich ihm Mannestreue zu‘, schalt der Waffenmeister, ,dieser blassen Memme! Der falsche und feige Sklave duckt seinen dünnen Leib in die Kutte, weil er ihn dort mehr in Sicherheit glaubt als unter dem Schilde seines Königs. Hätt’ ich mit dem Heuchler angebunden, solange er ein Schwert trug! Ihr werdet erleben, der Ränkeschmied stiftet uns schweres Unheil an!‘
Und die Herren stimmten ihm bei.
Auf der anderen Seite höhnten und kicherten die Jüngeren, denen Herr Wilhelm Tracy sein Mokierbüchlein wies.
Dieser Herr war ein fertiger Zeichner, müßt Ihr wissen, der mit dem Stifte zu spotten verstand wie kein anderer. Mit einer kleinen Verzerrung verwandelte er ein Menschenantlitz
in das eines Tieres oder in das Abbild eines toten Dinges, dem Gelächter aller Welt preisgebend. Auch mich faßte einmal sein Griffel und schuf mich zu einem krummbeinigen Jagdhund, der dem König in seiner großen Schnauze eine Schnepfe zutrug. Obschon mir damals der Spaß nicht gefiel, war ich der erste, ihn zu belachen, denn es war das klügste.
Andere, von reizbarerem Blute und besserem Adel als ich, erzürnten sich wohl, wenn sie Herr Wilhelm in solcher Verwandlung auf die Täfelchen seines Buches kritzte, das er jederzeit an den Gurt gekettelt trug. Gut, daß seine Klinge ebenso spitz war als sein Griffel, sonst hätte ihm dessen Schärfe das Leben gekostet.
Der Spötter wies jetzt der jungen Ritterschaft ein neues Blatt seiner Schildereien. Neugierig näherte ich mich Herrn Rinald dem Schönen, wie sie ihn nannten, der das Spottbüchlein eben in der Hand hielt.