Ordnung – oder Humanität
Die Deutschen möchten eine perfekte Migrationspolitik – und wissen, dass die Flüchtlinge darauf nicht warten können
Drei Tage, hat Gerd Müller gesagt. Am Sonntag. „Wenn ich den Auftrag bekomme als deutscher Entwicklungsminister, dann lösen wir das innerhalb von drei Tagen.“Das – ist die Aufnahme von 2 000 Menschen, die bis zu den Bränden im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos lebten. Und seitdem auf den Straßen und in den Wäldern dort. Unter Bedingungen, die dem Anspruch der Europäischen Union spotten, „eine Wertegemeinschaft“zu sein. Jeden Abend zeigen die deutschen TV-Sender Bilder von Erwachsenen und Kindern, denen Entsetzen und Verzweiflung in die Gesichter gezwungen sind.
Aber Müller (CSU) bekommt keinen Auftrag. Nicht am Montag, nicht am Dienstag. Stattdessen streiten die Regierenden – zu denen er ja gehört – einfach weiter, wie seit fünf, sechs, sieben Tagen. Ob Deutschland überhaupt Flüchtlinge aus Moria aufnehmen soll. Und falls ja – wie viele über die maximal 150 unbegleiteten Minderjährigen hinaus, zu denen Innenminister Horst Seehofer (ebenfalls CSU) sich am Freitag bereiterklärt hat. 150 der insgesamt 13 000 Migranten von Lesbos.
Seehofer hat wenig Beifall geerntet. Er ist zu erfahren und zu schlau, um welchen erwartet zu haben. Er ist aber auch zu überzeugt von seiner Sicht der Migrationsdinge und seiner daraus resultierenden Politik, um sie wegen Kritik zu ändern.
Als der Fremdenfeind, für den viele ihn halten, sieht er sich ohnehin nicht. Ihm gehe es, das sagt
„Evakuiert Moria!“, fordert eine Demonstrantin.
er seit Jahren, um „Humanität und Ordnung“.
Mit Angela Merkel (CDU) geriet er wegen der Gewichtung der beiden Prinzipien 2015 erst heftig aneinander – und dann in jahrelange Fehde. Die ist beendet; beide streben jetzt nach der „europäischen Lösung“. Und vor den Feuern von Moria glaubte die Bundeskanzlerin vielleicht noch, sie könnte – trotz Pandemie – in der deutschen Ratspräsidentschaft das Asylsystem tatsächlich erneuern. Mit gutem Willen, sagte sie in ihrer Sommer-Pressekonferenz, klappe das.
Aber nach gutem Willen sieht es nicht aus. Aus Moria wollen die meisten EU-Staaten nicht einmal anerkannte Flüchtlinge übernehmen. Für Seehofer – der kompromisswilliger ist, als viele glauben – bedeutet das: Er kann gar nicht anders, als seine alten Argumente zu wiederholen.
Ordnung wichtiger als Humanität Deutschland könne nicht alles Elend der Welt … Deutschland wolle keine Anreize … Deutschland dürfe mit Alleingängen nicht die europäische Lösung … Aber auch, wenn selbst die Kanzlerin und sogar die SPD inzwischen grundsätzlich mehr Wert auf Ordnung legen als auf Humanität: Es gibt in der GroKo auch Zweifel, ob dies der Zeitpunkt sein darf, all diese Vorbehalte vornan zu stellen. Dass die AfD diese Unsicherheit spürt – und sofort versucht, daraus mit dem Wiederholen ihrer alten „Wir schaffen das nicht und wir wollen das auch nicht schaffen!“-Parolen Profit zu schlagen: Das beängstigt viele GroKoisten. Und hält doch 16 Unions-Abgeordnete nicht davon ab, Seehofer zu schreiben, es gehe jetzt nicht vorrangig um eine endlich europäische Flüchtlingspolitik
– sondern ums Lindern menschlicher Not. Die 16 verlangen, 5 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Anerkannte. Mit Asylanspruch. Flüchtlinge erster Klasse also.
Seit Monaten fordern mehr als hundert deutsche Städte von Seehofer die Erlaubnis, überhaupt Aufnahme gewähren zu dürfen, gerade für Menschen aus Moria – was der mit dem Verweis „nicht ohne EU-Lösung“stur verweigert. Nun verstärken zehn Großstädte ihren Druck mit einem Brief. Und SPDChefin Saskia Esken wirft dem Minister „Blockadehaltung“vor.
1 500 Migranten dürfen kommen Am Dienstag heißt es plötzlich, Merkel und Seehofer hätten sich verständigt. 1 500 anerkannte Migranten dürften kommen, von griechischen Inseln – Mehrzahl. Am Ende sind es 1 553 – und die SPD stimmt zu. Weil Kanzlerin und Vizekanzler die Zahl dann wohl doch zu popelig klingt, rechnet das Bundespresseamt flugs alle dazu, die sonst noch von den Inseln kamen oder kommen dürfen – vor allem die 243 behandlungsbedürftigen Kinder samt Familien. Und schon kann der Regierungssprecher „etwa 2 750 Personen“in seine Mitteilung schreiben. Tags zuvor hat die Kanzlerin noch gesagt, es habe „überhaupt keinen Sinn, jetzt nur über eine Zahl zu sprechen“.
Nun geht es genau darum. Und, natürlich, um „Ordnung und Humanität“. Sagt auch Katrin Göring-Eckardt. Wie Merkel. Und Seehofer. Obwohl alle wissen: Beides zugleich funktioniert gerade noch weniger als ohnehin. Und es wird viel länger als Gerd Müllers drei Tage dauern, bis heraus ist, was sich durchsetzen wird.