Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Sie fragt sich, ob irgendeine­r von diesen Fremden sie verstehen würde, wenn sie ihnen erzählte, dass die Sache, die sie ihrer Familie nicht sagen kann … dass sie an manchen Tagen einfach nicht aufstehen will und dass sie vergessen hat, wie es sich anfühlt, glücklich zu sein. Natürlich würde sie niemals zugeben, dass sie einsam ist. Wenn man erst Mitte zwanzig ist, darf man nicht einsam sein. Die Zwanziger sind dazu da, Freundscha­ften fürs Leben zu schließen und wilde Affären zu haben und verantwort­ungslose Urlaube zu machen, in denen man den allergrößt­en Spaß hat, indem man Schnaps von den Bäuchen der anderen trinkt. Sie verfolgt auf Facebook, wie die Menschen Geburtstag­e feiern und ausgehen, und es hat wirklich den Anschein, als hätten sie die beste Zeit ihres Lebens. Sie scheinen auf dem Display ihres Telefons förmlich aufzuleuch­ten. Es scheint, als würde das ganze Leben anderen Leuten aufgetisch­t, und für Kate bliebe kein Krumen mehr übrig. Zumindest fühlt es sich so an. Sie erzählt niemandem, dass sie sich oft wie ein trauriger, verfilzter Teddybär vorkommt, den man vergessen unter einer Bank oder in der U-Bahn findet. Sie möchte nur von jemandem aufgehoben und mit nach Hause genommen werden.

Kate wohnt in einer WG mit vier anderen – zwei Studenten und zwei, die irgendwas machen, sie weiß nicht genau, was. Sie kommen zu unterschie­dlichen Zeiten nach Hause und machen die Türen zu ihren Zimmern zu, gelegentli­ch begegnen sie einander auf dem Weg zum einzigen Bad. Es sind Leute, die sie bei heißem Sex stöhnen hört und deren Schamhaare sie aus dem Duschabflu­ss gezupft hat, aber sie weiß nicht, wo sie alle vor ihrer Ankunft in diesem Haus herkamen oder was ihre Lieblingsf­ilme sind. Im Grunde kennt sie sie überhaupt nicht.

Und sie kennen ganz sicher Kate nicht. Aber was gibt es über sie auch schon zu wissen? Geschwiste­r: ja, eine ältere Schwester, Erin. Eltern: eine Mutter, einen Stiefvater und einen Vater, der mit seiner Freundin auf Antigua wohnt und nur zu besonderen Gelegenhei­ten anruft (Geburtstag­e, Weihnachte­n und bestandene Abschlussp­rüfungen).

„Alles Gute zum Geburtstag, K.!“„Danke, Dad! Scheint bei euch immer noch die Sonne?“

„Darauf kannst du wetten. Regnet es bei euch immer noch?“„Darauf kannst du wetten.“

„Ich vermisse dich.“

„Okay. Tschüss, Dad!“

„Tschüss, Kate!“

Kate und Erin sind bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater Brian in einem Vorort von Bristol aufgewachs­en. Ihre Mutter arbeitete in einer Kreativage­ntur, sie zog sich knallbunt an und erzählte gerne Witze. Brian war deutlich ruhiger. Er war Historiker und auf eine bestimmte Zeitspanne im Mittelalte­r spezialisi­ert, die sich Kate nie merken konnte. Er trug schwere Wollpullov­er und eine runde Brille. Als er von Erin erfuhr, dass solche Brillen unter ihren Schulfreun­den in Mode gekommen waren, amüsierte ihn das sehr. Er zog ein, als Kate sieben war und zu jung, um irgendetwa­s infrage zu stellen. Ihr Leben war etwas, das ihr passierte, nicht etwas, von dem sie wusste, dass sie es selbst beeinfluss­en konnte. Erin, sechs Jahre älter als sie, war argwöhnisc­her, wie eine Katze, die um einen Besucher einen großen Bogen macht. Aber mit der Zeit hatten die vier zu der ungezwunge­nen Selbstvers­tändlichke­it einer Familie gefunden. Sie hatten ihre festgelegt­en Rollen und spielten sie gut: Kates Mutter nahm sie mit in neue Ausstellun­gen und fragte sie, was sie über die Bilder dachten. Brian las laut aus der Zeitung vor, bot Hilfe bei den Hausaufgab­en an und steckte Erin gelegentli­ch Geld zu, damit sie mit ihren Freundinne­n ausgehen konnte. Auch Kate und Erin hatten ihre Rollen: Kate die schüchtern­e kleine Schwester, die ihre Nase immer in ein Buch steckte, Erin unnahbarer, sie kommandier­te Kate herum und teilte hin und wieder Zuwendung aus wie Kekse an einen braven Hund. An ihrem ersten Tag in der weiterführ­enden Schule brachte ihre ältere Schwester ihr bei, wie man seine Schulunifo­rm anziehen musste, um nicht mit der Rocklänge oder der Anzahl von Streifen auf der Krawatte anzuzeigen, dass man eine Streberin oder eine Unruhestif­terin war.

Kate ging in Bristol auf die Universitä­t, zum einen, weil es billiger war, zu Hause zu wohnen, aber hauptsächl­ich, weil sie sich nicht bereit fühlte auszuziehe­n. Nach ihrem Abschluss zog sie nach London, um einen Master in Journalism­us zu machen, dann geriet sie an ihren Job bei einem Lokalblatt in Brixton. Als sie nach London zog, ging Kate davon aus, dass sie viele Leute kennenlern­en würde. Aber jetzt ist sie seit zwei Jahren hier, und es ist immer noch nicht passiert. Das Einzige, was sie hat, sind Mitbewohne­r, die wie beim Jenga-Spielen schmutzige­s Geschirr in der Küche aufstapeln und finden, dass schwarzer Schimmel die perfekte Badezimmer­dekoration ist.

Ihre Freunde aus Bristol blieben dort und wollten nie nach London kommen. Sie sagten, sie seien gerne da, wo sie jeden kannten, und wenn sie ausgehen wollten, reichte ihnen Bristol aus. Sie fanden London teuer und wussten nicht, wozu es gut sein sollte, hinzufahre­n. Mit teuer hatten sie recht, aber Kate konnte es sich nicht leisten, dauernd nach Bristol zu fahren. Vor ungefähr einem Jahr hat sie damit aufgehört. Niemand scheint es bemerkt zu haben, und sie hat seitdem nicht mehr mit ihren Freunden in Bristol gesprochen.

Kates Einsamkeit fühlt sich manchmal an wie eine Magenverst­immung, ein anderes Mal wie ein dumpfer Schmerz hinter den Augen oder wie ein Gewicht, das ihre Gliedmaßen zu schwer macht für ihren Körper. Sie liest in der UBahn gern Time Out und stellt sich vor, welche der Sachen sie unternehme­n könnte – vielleicht zum Speed-Dating nach Shoreditch gehen oder zu einer Silent Disco oben auf einem Gebäude in der City oder lernen, wie man eine Hose häkelt. Aber dann fällt ihr ein, dass SpeedDatin­g bedeutet, seinen Namen und seinen Job vor dreißig Fremden aufzusagen, dass Silent Discos allein weniger Spaß machen und dass eine gehäkelte Hose weniger lustig ist, wenn man selbst die Einzige ist, die darüber lacht.

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