„Es ist Schwachsinn“
Die Königsetappe der Tour de France begeistert längst nicht jeden – auch nicht Bob Jungels
„Dieser Anstieg ist einzigartig.“Christian Prudhomme gerät ins Schwärmen, wenn er vom Col de la Loze spricht. Der Chef der Tour de France fügt hinzu: „Der Berg übertrifft meine Erwartungen.“Dies Worte soll Prudhomme gesagt haben, als er die Straße hinauf zum Gipfel vor rund einem Jahr zum ersten Mal sah. Seinem Kumpel Thierry Gouvenou geht es ganz ähnlich: „In meinen Augen hat der Anstieg alles, um einer der berühmtesten Pässe Frankreichs zu werden“, findet der Streckenchef der Frankreich-Rundfahrt. Prudhomme stimmt zu: „Das ist der Pass für das 21. Jahrhundert.“
Die Begeisterung der Organisatoren ist riesig. Im Fahrerfeld hält sie sich allerdings in Grenzen. Auch Bob Jungels macht nicht gerade Luftsprünge. Er äußert Kritik – die von Prudhomme und Co. gerne weggelächelt wird.
Sie sind stolz auf ihre Entdeckung. Denn das ist die Straße hinauf bis zum Gipfel des Col de la Loze auf 2 304 m über dem Meeresspiegel in der Tat. Bis vor anderthalb Jahren gab es sie noch gar nicht. Bis dahin war der Weg oberhalb von Méribel, der für Autos gesperrt ist, noch nicht asphaltiert. Zunächst war nur die Seite von Courchevel geteert. Nun sind beide Orte miteinander verbunden.
Die permanenten Rhythmuswechsel können einem den Zahn ziehen. Michel Ries
Die Idee dazu, den Pfad, der sich durch das Skigebiet des Urlaubsortes Méribel windet, zu asphaltieren, hatte Thierry Carroz, Präsident der lokalen Sportvereine. 2023 richtet man zusammen mit Courchevel die alpine Ski-WM aus. Da kommt die Verbindung ganz gelegen – auch wenn sie aus ökologischer Sicht eher zweifelhaft ist.
Das ist heute aber zweitrangig: Die 170 km zwischen Grenoble und dem Col de la Loze sollen zu einem wahren Feuerwerk werden. Die Königsetappe, die auf dem Dach der 107. Tour de France endet, soll ihrem Namen gerecht werden. Die Premiere soll einen bleibenden Eindruck hinterlassen, damit der Pass bald zu einem wichtigen Bestandteil der Frankreich-Rundfahrt werden kann.
Seit der feierlichen Eröffnung im Mai 2019 – zu der Zeit lag noch Schnee, welcher für die Zeremonie geräumt werden musste – ist viel passiert. Bevor man die besten Radprofis der Welt auf den Col de la Loze schickt, mussten erst einmal Versuchskaninchen herhalten.
Diese Rolle übernahmen die Teilnehmer der Tour de l'Avenir vor knapp einem Jahr. Damals wartete eine nur 23,1 km lange Etappe auf die besten U23-Fahrer der Welt. Mit dabei war Michel Ries. Der 21-Jährige wurde sehr starker Zweiter. Er erinnert sich ganz genau: „Die ersten Kilometer bis nach
Méribel sind in keiner Form außergewöhnlich. Doch dann wird das Terrain extrem steil und sehr anspruchsvoll. Die Unregelmäßigkeit ist das Merkmal dieses Bergs. Es kann während 200 m mit 20 Prozent bergauf gehen und dann ist es wieder flach. Diese permanenten Rhythmuswechsel können einem den Zahn ziehen.“
Jungels: „Spektakel ist nicht das Wichtigste“
Ganz ähnlich fällt die Analyse von Prudhomme aus: „Die Straße dreht und wendet sich permanent. Es handelt sich um eine Abfolge von brutalem Gefälle. So etwas habe ich noch nicht gesehen.“
Der Col de la Loze (21,5 km à 7,8 Prozent) ist lang, allerdings zu Beginn nicht besonders schwierig. Die ersten 14 Kilometer bis nach Méribel – wo die Tour erst einmal, 1973, zu Besuch war – sind alles andere als besonders herausfordernd. Es handelt sich um eine typische, gut asphaltierte Straße hinauf zu einer alpinen Skistation. Bis dahin nichts Ungewöhnliches. Doch dann folgt die künstliche Verlängerung.
Jungels besichtigte den Parcours im Juni zusammen mit seinen Teamkollegen Dries Devenyns (B) und Julian Alaphilippe (F). Gelinde gesagt, hält sich die Begeisterung beim Luxemburger Zeitfahrmeister in Grenzen. „Ich will ganz klar sein: Es ist Schwachsinn“, erzählte der Fahrer der Mannschaft vom Team Deceuninck-Quick Step vor der Tour de France im Gespräch. Der 27-Jährige nimmt kein Blatt vor den Mund: „Ich habe immer mehr den Eindruck, dass viele Organisatoren falsche Vorstellungen haben. Mir gefällt die Richtung nicht, in die sich viele Rennen bewegen: Es muss immer steiler, immer spektakulärer und auch immer gefährlicher sein. Das ist falsch. Das Spektakel ist nicht das Wichtigste.
Jungels hat einige Beispiele parat: „Bei der Bretagne Classic fügt man Gravel-Passagen ein – zudem noch in einer Abfahrt. Auch bei Gent-Wevelgem müssen plötzlich unbefestigte Straßen zum Parcours gehören. In meinen Augen waren das auch in der Vergangenheit schon spektakuläre Rennen. Die Änderungen braucht kein Mensch. Wir betreiben schließen Straßenradsport.“
Zurück zur Königsetappe mit dem Col de la Loze. Jungels hat eine klare Meinung: „Die ersten rund 14 km sind wunderbar. Die Straße ist sehr gut. Den Zielstrich hätte man problemlos in Méribel ziehen können. Aber nein, es muss dann noch höher, noch steiler werden. Die letzten Kilometer geht es durchschnittlich zwölf Prozent bergauf. Das mag für reine Kletterer sehr nett sein. Die Leichtgewichte werden keine Probleme bekommen. Doch alle anderen werden leiden. Es macht in meinen Augen keinen Sinn, solche Ankünfte zu organisieren. Von den Favoriten kommen vielleicht drei, vier Fahrer für den Sieg infrage. Alle anderen sind chancenlos. Das ist eigentlich nicht Sinn der Sache.“
Der Col de la Loze ist die siebthöchste Passstraße in Frankreich.
Zudem wird er dem Club der höchsten Bergankünfte in der Tour-Geschichte beitreten – nach dem Col du Galibier (2 642 m/im Jahr 2011), dem Col du Granon (2 413 m/1986), Val Thorens (2 365 m/2019) und dem Col d'Izoard (2 360 m/2017).
Neue Route zum Gipfel des Col de la Madeleine
Die Würze des finalen Anstiegs hat die Organisatoren gar bewegt, das Profil der übrigen Etappe zu mäßigen. Zunächst war der Plan, dass das Peloton über den Col de la Croix de Fer und den Col de la Madeleine fahren sollte, bevor es die Schlusssteigung hochgehen würde. Letztendlich verzichtete man auf den Col de la Croix de Fer. Doch der Col de la Madeleine (17,1 km à 8,4 Prozent), ein Anstieg der höchsten Kategorie, hat es ohnehin in sich. Auch da gibt es eine neue Passage: Das Peloton wird eine engere, steilere Straße am Südhang nehmen, um zum Gipfel zu kommen. Lediglich die letzten 4 km sind identisch mit der allseits bekannten Straße.
Jungels ist sich sicher: „Am Col de la Madeleine wird rein gar nichts passieren, weil alle mit Ehrfurcht auf den Col de la Loze warten. Es gibt also weniger Action. Die Organisatoren befinden sich demnach auf dem Holzweg.“
Der Etappenauftakt ist heute unspektakulär. Bis Kilometer 90 stehen keine Schwierigkeiten im Weg. Danach kommt es knüppelhart: Der Col de la Madeleine (2 000 m) ist einer der mythischen Tourpässe. Nach der langen Abfahrt geht es rund 15 Kilometer flach durch das Tal, ehe die Schlusssteigung zum Col de la Loze beginnt.
Es macht in meinen Augen keinen Sinn, solche Ankünfte zu organisieren. Bob Jungels