Europas steiniger Weg
Bestimmt hätte Ursula von der Leyen ihre erste Rede zur Lage der Europäischen Union lieber unter anderen Vorzeichen gehalten. Als ob die Lähmung der EU und der Dauerstreit um den richtigen Weg zur Weiterentwicklung der Union nicht schon steinig genug wären, bestimmt jetzt vor allem die Bewältigung der Corona-Epidemie und deren wirtschaftlichen Folgen die politische Agenda.
Man kann Ursula von der Leyen nach ihrer Brüsseler Rede nicht vorwerfen, wichtige Fragen ausgespart zu haben. Sie fand ein Gleichgewicht zwischen aktuellen und langfristigen Themen. Mit ihren Vorschlägen und Forderungen entwarf sie jedoch eine idealtypische EU, die man sich gerne wünschen würde, von der die Kommissionschefin jedoch nicht überzeugend darlegte, wie sie unter den gegebenen politischen Umständen realisiert werden soll. Von innerer Geschlossenheit ist die EU ebenso weit entfernt wie von außenpolitischer Stärke. Mit dem Bild, das die EU im Jahr 2020 abgibt, wird sie ihren eigenen Ansprüchen in vielen Punkten nicht gerecht, wie sich gerade während des Corona-Ausnahmezustands gezeigt hat.
Eine der eklatantesten Schwachstellen der Pandemiereaktion war die Abstimmung der Gesundheitspolitiken zwischen den Mitgliedstaaten. Die Bilder von überfüllten Krankenhäusern im französischen Grand Est oder in Norditalien sind noch in frischer Erinnerung, ebenso die unkoordinierten Grenzschließungen quer durch Europa, die von einer zahnlosen Kommission nicht verhindert werden konnten. Geschickt wies Ursula von der Leyen auf diese Missstände hin und forderte für die Union mehr Mitspracherecht in Sachen öffentlicher Gesundheit. Womöglich haben die Mitgliedstaaten ja aus ihren Fehlern gelernt und sind damit eher bereit, Kompetenzen abzutreten und die Kommission zumindest in Gesundheitsfragen stärker an der Politik zu beteiligen. Es wäre tatsächlich eine der besten Gelegenheiten seit langer Zeit, der Skepsis mancher EU-Bürger den konkreten Nutzen Europas entgegen zu stellen.
Wie innerlich zerrissen die EU auch beim Thema Migration ist, hat der Brand im Flüchtlingslager von Moria auf der griechischen Insel Lesbos schonungslos offengelegt. Als Wertegemeinschaft kann die Union nicht die Augen verschließen vor dem Leid der Flüchtlinge, das machte von der Leyen unmissverständlich klar. Migration sei eine gesamteuropäische Herausforderung, sagte die Kommissionsvorsitzende. Es war eine der Stellen, die von den Parlamentariern mit dem meisten Applaus bedacht wurde.
Und doch wird gerade das Argument der „europäischen Lösung“von manchen EU-Politikern als Hebel benutzt, um die humanitär gebotene Aufnahme der Menschen in den Mitgliedstaaten zu verhindern.
Die Einführung europaweiter Mindestlöhne, Europa als erster klimaneutraler Kontinent bis zum Jahr 2050, eine stärkere Nutzung der Digitalisierung: Es mangelt Ursula von der Leyen und ihrer Kommission nicht an konkreten Ideen und ehrgeizigen Plänen. Es wird aber mehr denn je auf ihr politisches Geschick ankommen, ob sie diese trotz Corona auch umsetzen kann.
Die EU wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht.