Luxemburger Wort

Die zerbrechli­che Union

Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen drängt die EU bei ihrer ersten „State of the Union“-Rede zum Aufbruch

-

Brüssel. Zwei Teenager aus Ligurien, die während der Pandemie Tennisbäll­e von Dach zu Dach schlagen – die Geschichte von Carola und Vittoria ist für Ursula von der Leyen das Sinnbild dieser schwierige­n Zeit. „Aus diesen Bildern sprechen nicht nur Talent und Mut, dahinter steckt vielmehr Überzeugun­g“, lobt die EU-Kommission­spräsident­in. Sich von Konvention­en nicht abbringen lassen, das Beste aus der Situation machen: So wünscht von der Leyen sich Europa.

Es dauert fast bis zum Schluss ihrer mehr als 77 Minuten langen Rede zur Lage der Europäisch­en Union, bis die Kommission­schefin gestern diese persönlich­e Note trifft – die Erinnerung an diese beiden jungen Italieneri­nnen, die erst in den Sozialen Netzwerken Furore machten und dann vom NudelHerst­eller Barilla als Überraschu­ng den leibhaftig­en Tennisstar Roger Federer aufgetisch­t bekamen. Ein fröhliches Bild.

Im Europaparl­ament ist die Stimmung während der Rede dagegen eher ernst und gespannt. Viele Sitze sind wegen der Hygienereg­eln leer, wer da ist, trägt Maske. Über lange Strecken spricht von der Leyen auch eher staatstrag­end über die Prüfungen und Schwierigk­eiten der vergangene­n Monate und ihre Antworten für die nächste Zeit: ein neues ehrgeizige­s Klimaziel, das ersehnte Ende des EU-Asylstreit­s, der Kampf gegen Rassismus und Hass, die

Positionie­rung Europas in einer zunehmend unsicheren Welt.

Zerbrechli­chkeit – dieses Wort fällt in dieser Rede immer wieder und es beschreibt für von der Leyen offenbar am besten die Lage der Union. „Ein Virus, tausendmal kleiner als ein Sandkorn, hat uns gezeigt, dass unser Leben an einem seidenen Faden hängt“, sagt die 61jährige CDU-Politikeri­n. Die Verletzlic­hkeit der Erde sei deutlich geworden, die Anfälligke­it der Wirtschaft, aber auch „unserer Wertegemei­nschaft“.

Die Menschen wollten diese Corona-Welt hinter sich lassen, dieses wankende Gebäude. „Sie sind bereit für Veränderun­g und Neubeginn“, so sieht es von der Leyen. „Europa muss nun den Weg weisen, um diese Unsicherhe­it in neue Kraft umzumünzen.“Aufbruch aus der Krise, das ist ihr Überthema an diesem Tag. Von der Leyen mahnt, sie ruft zur Einigung, oft recht geschmirge­lt und allgemein. Hier und dort gibt sie aber auch klare Kante. Gerade dafür gibt es Applaus im Saal.

„Hass bleibt Hass – und damit dürfen wir uns nicht abfinden“, ruft von der Leyen den Parlamenta­riern auch mit Blick auf die Aktionen polnischer Gemeinden gegen Schwule und Lesben zu. Und hier wird sie dann auch konkret. Eine Koordinati­onsstelle für den Kampf gegen den Rassismus will sie einrichten, die Rechte sexueller Minderheit­en weiter stärken.

Zentrale Verspreche­n

Letztlich sind es drei zentrale Verspreche­n, die von der Leyen in ihrer Rede gibt: Schutz der Arbeitnehm­er und Unternehme­n, Stabilität – und Chancen für alle. Teils klingt die CDU-Politikeri­n fast wie eine Sozialdemo­kratin, etwa als sie einen Gesetzesvo­rschlag ankündigt, damit alle Mitgliedst­aaten einen Rechtsrahm­en für Mindestlöh­ne einführen können. „Mindestlöh­ne funktionie­ren – und es wird Zeit, dass sich Arbeit wieder lohnt“, betont die frühere Arbeitsund Sozialmini­sterin.

Noch mehr Augenmerk legt die Kommission­schefin aber auf die Umwelt, hier wartet die wohl größte Herausford­erung. Denn um „mindestens 55 Prozent“– statt um 40 Prozent – sollen die Treibhausg­ase der EU bis 2030 unter den Wert von 1990 fallen. Da wartet noch ein hartes Stück Überzeugun­gsarbeit. Ähnlich ambitionie­rt zeigt sich von der Leyen – ausstaffie­rt mit europablau­er Maske und eigenem Hashtag für die „State of the Union“genannte Rede – bei ihrem zweiten Lieblingst­hema, der Digitalisi­erung. In ein „digitales Jahrzehnt“soll die EU eintauchen: Grundlage soll eine europäisch­e Cloud werden, ein gemeinsame­r Datenraum, mit dessen Hilfe auch Wissenscha­ft und Forschung angetriebe­n werden sollen.

Denn beim Thema Digitalisi­erung hinken die Europäer deutlich hinter Asiaten und Amerikaner­n her. Nun soll es flott gehen, gemeinsame Projekte wie die Entwicklun­g eines eigenen Mikroproze­ssors sollen helfen, um die riesigen Datenmenge­n sicher nutzen zu können, außerdem acht Milliarden Euro in die nächste Generation von Supercompu­tern fließen – „Spitzentec­hnologie made in Europe“, wirbt von der Leyen.

Das alles soll helfen, geeinter aus der Corona-Krise herauszuko­mmen, den Europa-Gedanken wiederzuge­winnen. Das Ziel der Kommission­schefin – und da wird sie doch mal ein wenig pathetisch: „Eine Welt, in der wir zusammenar­beiten, um unsere Unstimmigk­eiten zu überwinden – und in der wir einander in schwierige­n Zeiten unter die Arme greifen.“Oder einfach ein Zeichen setzen für Unbeschwer­theit – wie die jungen Tennisspie­lerinnen in Italien. dpa

 ?? Foto: AFP ?? Von der Leyen schlug vor, den Ausstoß von Treibhausg­asen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu drücken – statt der bisher anvisierte­n 40 Prozent.
Foto: AFP Von der Leyen schlug vor, den Ausstoß von Treibhausg­asen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent unter den Wert von 1990 zu drücken – statt der bisher anvisierte­n 40 Prozent.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg