Der Alptraum-Nawalny
Das politische Comeback des bekannten Oppositionellen zeichnet sich schon am Krankenbett ab
Alexei Nawalny meldet sich wieder. „Gestern habe ich den ganzen Tag selbstständig geatmet“, verkündete er am Dienstag auf Instagram. „Ohne das kleinste Ventil im Hals. Hat mir sehr gefallen.“Nawalny, russischer Politiker, 48, vor einem Monat in Tomsk vergiftet, kann laut den Ärzten der Berliner Charité auch das Bett wieder verlassen. Und seine Pressesprecherin bestätigte gestern eine Meldung der New York Times, Nawalny wolle nach Russland zurück und dort wieder Politik machen.
Moskau reagiert mit gemischten Gefühlen. Für Nowitschok sehe der Patient viel zu gut aus, kommentiert die Staatsagentur RIA Nowosti unter Berufung auf einen vaterländischen Experten. Ein Bundeswehrlabor hatte in Nawalnys Blut Spuren des Nervenkampfstoffs Nowitschok entdeckt.
Labore in Frankreich und Schweden bestätigten das, eine Teilnahme russischer Sicherheitsorgane an dem Giftmordanschlag liegt nahe. Die Dementis des Kremls klingen nervös, am Dienstag rutschte Putin-Sprecher Dmitri Peskow gar ein Name über die Lippen, der im offiziellen Moskau seit Jahren Tabu ist: Nawalny.
Der Name Nawalny könnte für Wladimir Putin noch ärgerlicher werden. Schon schlägt der EU-Außenbeauftragte Josep Barrel vor, das fällige Sanktionspaket gegen Russland auf Nawalny zu taufen. Moskauer Topbeamten drohen Strafmaßnahmen. Westmedien prüfen die Sanktionsliste anhand russischer Luxusimmobilien, die Nawalnys Antikorruptionsstiftung FBK in den vergangenen Jahren vor allem in London-City entdeckte. Und man sieht in Russland mit Angst, dass die politische Öffentlichkeit in Brüssel und Berlin wegen des Falls Nawalny die schon fast fertige Ostseegaspipeline Nordstream-2 wieder infrage stellt. „Die deutsche Seite beschäftigt sich ernsthaft mit der Variante, das Projekt einzufrieren“, staunt die Zeitung Kommersant.
Nach Wochen im Koma scheint Nawalnys Comeback nur noch eine Frage der Zeit zu sein. „Ich kenne Alexei seit 20 Jahren“, sagt sein Oppositionskollege Ilja Jaschin unserer Zeitung, „ich zweifle nicht, er wird nach Russland zurückkehren und seine Arbeit fortsetzen.“Kremlnahe Kreise unterstellen, Nawalny werde in Russland wie vorher als Agitator für westliche Geldgeber arbeiten. „Er macht hier große Geschäfte“, sagt der
Politologe Alexei Muchin, „auch wenn sie völlig illegal sind“.
Nawalny kann eine Bedrohung für die Staatsmacht werden
Und die Vertretung Russlands bei der EU räsoniert in einer Verlautbarung, warum die russischen Behörden Nawalny hätten vergiften sollen, wo doch seine Popularität laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums nur 2 % betrage. Diese 2 % antworteten auf die Frage, für welchen Präsidentschaftsanwärter sie zurzeit stimmen würden. Obwohl Nawalny wegen zwei umstrittener Vorstrafen gar nicht kandidieren darf, belegte er hinter Putin (40 %) und dem Nationalpopulisten Wladimir Schirinowski (4 %) Platz drei.
Dass Nawalny der Staatsmacht durchaus gefährlich werden kann, zeigt der vergangene Regionalwahlsonntag. Im sibirischen Tomsk, wo er unmittelbar vor seiner Vergiftung einen Enthüllungsfilm über korrupte Parlamentarier der Staatspartei „Einiges Russland“gedreht hatte, gewannen Mitarbeiter seines Stabes überraschend mehrere Stadtratssitze. „Einiges Russland“stürzte von 32 auf 11 Mandate ab. Jetzt hoffen Nawalnys Anhänger, solche lokale Erdrutsche könnten bei den Duma-Wahlen 2021 landesweit werden.
Wenn man Nawalny erlaube, eine Partei zu gründen, hole er bei den Duma-Wahlen 13 % bis 14 %, sagt der Systemliberale Boris Nadeschdin. „Ob wir es wollen oder nicht, er ist zur Symbolfigur geworden.“– „Ich sehne mich nach euch“, schrieb Nawalny auf Instagram. Bis gestern erntete er über 1,4 Millionen Likes dafür.