Türkei droht Ausschluss aus Europarat
Erdogan ignoriert bewusst ein Gerichtsurteil zur Freilassung des inhaftierten Mäzens Osman Kavala – Nun drohen Konsequenzen
Seit über drei Jahren sitzt der renommierte türkische Unternehmer und Kulturförderer Osman Kavala in Untersuchungshaft. Die türkische Justiz ignoriert ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der seine sofortige Freilassung fordert. Nun droht der Türkei deswegen der Ausschluss aus dem Europarat.
Als Osman Kavala am 17. Oktober 2017 von einem Treffen mit Mitarbeitern des Goethe-Instituts aus dem südostanatolischen Gaziantep nach Istanbul zurückflog, wartete am Atatürk-Flughafen die Polizei. Noch in der Maschine nahmen die Beamten Kavala fest. Ein Jahr lang verbrachte der bekannte Mäzen, der sich mit seiner Stiftung Anadolu Kültür für zivilgesellschaftliche Projekte einsetzt, in Untersuchungshaft, bis die Staatsanwaltschaft überhaupt eine Anklage vorlegte. Kavala wurde beschuldigt, die landesweiten regierungskritischen Proteste vom Sommer 2013 angestiftet und finanziert zu haben. Die Staatsanwälte warfen Kavala „Umsturzversuch“vor und forderten „lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen“, was eine vorzeitige Begnadigung ausschließt. Staatschef Recep Tayyip Erdogan machte die Verfolgung des Regierungskritikers zur Chefsache. Er bezeichnete Kavala, der sich insbesondere für eine Aussöhnung zwischen Türken, Kurden und Armeniern einsetzte, als „Terrorfinanzierer“und „Spion“, dem man „die nötige Lektion erteilen“werde.
Trotz Freispruch sofort wieder verhaftet
Kavala sei ein Mittelsmann von George Soros, jenem „berüchtigten ungarischen Juden“, sagte Erdogan mit einem antisemitischen Schlenker. Ein Gericht sprach Kavala zwar im Februar 2020 frei. Aber nur wenige Stunden später wurde er erneut verhaftet. Diesmal lautet der Vorwurf „Spionage“und Beteiligung an dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Gegen die Richter, die Kavala freigesprochen hatten, wurden Ermittlungen
eingeleitet. Bereits im Dezember 2019 hatte der EGMR entschieden, dass Kavala zu Unrecht in Untersuchungshaft sitze. Der Prozess gegen ihn sei „politisch motiviert“und verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, stellten die Richter fest. Mit der Inhaftierung solle Kavala „als Verteidiger der Menschenrechte
Osman Kavala im Jahr 2014
zum Schweigen gebracht werden“, heißt es in dem Urteil. Das Gericht ordnete Kavalas sofortige Freilassung an. Einen Einspruch der Türkei lehnte der EGMR ab, das Urteil ist seit Mai rechtskräftig.
Aber die Türkei ignoriert den Richterspruch – obwohl sie als Mitglied des Europarates an die
Urteile des Gerichtshofes gebunden ist. Dem Europarat mit Sitz in Straßburg gehören heute 47 Staaten an. Er gilt als Hüter der Menschenrechte, der demokratischen Grundrechte und rechtsstaatlicher Prinzipien. Der Europarat verabschiedete 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention, über deren Einhaltung der EGMR wacht.
Anfang September forderte der Rat die Türkei auf, Kavala „sofort freizulassen“. Außerdem soll die Regierung in Ankara einen Aktionsplan vorlegen, „um ähnliche Verletzungen der Menschenrechtskonvention künftig zu verhindern“. Ignoriert die Türkei diese Aufforderungen, könnte der zuständige Ausschuss des Europarats schon Ende September ein Ausschlussverfahren einleiten. Damit wird der Fall Kavala zum Prüfstein für die Beziehungen der Türkei zu Europa unter Staatschef Erdogan. Ein Ausschluss der Türkei aus dem Europarat könnte auch das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union bedeuten.