Warten auf den Schwarzen Schwan
Der Auslöser der nächsten Wirtschaftskrise könnte aus einer unerwarteten Richtung kommen
In der Nacht vom 1. zum 2. September 1859 spielten in weiten Teilen Europas und Nordamerikas die gerade erst installierten Telegrafenanlagen verrückt. Nicht wenige Bediener der Fernschreiber erhielten Elektroschocks, Telegrafenmasten warfen Funken und die Papierstreifen in den Empfängern fingen Feuer. Ihren Ursprung hatte das Ereignis etwa 150 Millionen Kilometer entfernt: Gewaltige Eruptionen der Sonne sandten Millionen Tonnen elektrisch aufgeladener Partikel aus, die wenige Minuten später auf die Erde trafen. War der daraus resultierende Schaden zu einer Zeit, als es noch kaum elektronische Geräte gab, noch überschaubar, hätte die Wiederholung eines solchen „Carrington Events“unter heutigen Bedingungen katastrophale Folgen. Einen Vorgeschmack darauf gab es 1989, als ein schwächerer Sonnensturm die Stromversorgung in weiten Teilen Quebecs lahmlegte.
„Ein solcher geomagnetischer Sturm könnte viele Hochspannungstransformatoren in Luxemburg und Europa irreparabel beschädigen. In diesem Fall würde dies das gesamte Stromnetz und damit auch unsere Kommunikationsnetze ausschalten“, sagt Thomas Kallstenius, Chef des „Luxembourg Institute of Science and Technology“. Laut Kallstenius schätzen Physiker auf der ganzen Welt die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses innerhalb der nächsten zehn Jahre auf etwa zehn Prozent.
Für Alan Picone, als Partner bei der Unternehmensberatung KPMG Luxemburg für die Risikoberatung verantwortlich, handelt es sich bei einem solchen geomagnetischen Sturm um ein sogenanntes „Black Swan“-Event. Damit sind Ereignisse gemeint, die extrem unwahrscheinlich sind, und daher von kaum jemandem vorhergesehen werden, sich aber verheerend auf die Wirtschaft auswirken können. In gewisser Weise kann die aktuelle Corona-Krise auch als ein solcher Schwarzer Schwan angesehen werden. Auch wenn den meisten Risikomanagern klar war, dass die Möglichkeit einer weltweiten Epidemie besteht, „gab es kein spezifisches Pandemie-Szenario bei den Unternehmen“, so Picone. „Das Problem ist heute, dass Menschen dazu tendieren anzunehmen, dass nur Dinge passieren können, die sie zuvor bereits erlebt haben und sie dabei reale Risiken übersehen.“
Zunahme externer Schocks
„Die gegenwärtige Krise ist an sich schon eine sehr eigenartige Erscheinung“, sagt Werner Plumpe, ein Wirtschaftshistoriker von der Goethe-Universität in Frankfurt, der sich mit der Geschichte von Wirtschaftskrisen beschäftigt. „Krisen in den vergangenen 150 Jahren sind immer einem gewissen inneren Rhythmus gefolgt, der sehr stark mit den Spezifika kapitalistischer Dynamik zusammenhängt.“So wurden die Wirtschaftskrisen seit der Industriellen Revolution vor allem ausgelöst durch geplatzte Spekulationsblasen wie bei der Dotcomkrise 2000 oder durch geopolitische Ereignisse wie Kriege oder die Spannungen im Nahen Osten, die ab 1973 zur Ölpreiskrise geführt haben. Waren die Ursachen dieser Krisen in erster Linie menschengemacht, stellt das Corona-Virus eine Art externen Schock dar. Konnte man in der Finanzkrise noch die Banker und Spekulanten als Bösewichter identifizieren, gibt es aktuell wenig Kandidaten, die sich für die Rolle des Sündenbocks eignen.
Sowohl das Beispiel des „Carrington Events“als auch die wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Pandemie zeigen, dass sich zu den zyklischen Krisen der Vergangenheit in Zukunft vermehrt solche externen Schocks hinzugesellen könnten. Diese können sehr unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen: Großangelegte Hackerangriffe auf kritische Infrastrukturen, eine weitere Pandemie oder eine Eskalation des Konflikts zwischen China und den USA wären Ereignisse, die schnell weltweite Folgen nach sich ziehen könnten. Es gibt mehrere Gründe, warum unser Wirtschaftssystem heute anfälliger gegenüber solchen externen Schocks ist, als das in der Vergangenheit der Fall war
Eine der Ursachen dafür ist die Globalisierung. „Je komplexer und intensiver der weltwirtschaftliche Austausch ist, umso anfälliger ist er für externe Krisenerscheinungen. Wir haben heute eine hochkomplexe internationale Arbeitsteilung, die unter solchen Pandemie-Erscheinungen natürlich auch leidet. Wenn dann noch zusätzlich Lockdowns beschlossen werden, kann es dazu führen, dass aus den internationalen Waren- und Wertschöpfungsketten ganze Bereiche plötzlich herausfallen, die sich auch nicht so ohne weiteres substituieren lassen“, so Plumpe. Die Globalisierung zurückzudrehen, um die Auswirkungen solcher Schocks zu mindern, wie es aktuell von einigen Politikern diskutiert wird, ist für den Historiker hingegen keine realistische Option. „Die Forderung danach, sich in seinen nationalen Grenzen unabhängiger vom Weltmarkt zu machen, ist nicht ganz unproblematisch. Denn das liefe darauf hinaus, dass man die spezifischen Vorteile der Globalisierung auch verlöre. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn wir bei uns alle Medikamente wieder selbst herstellen würden, müsste man mit sehr viel höheren Kosten rechnen“, so Plumpe.
Abhängigkeit von Technologie
Der andere Grund, warum solche Black Swan Ereignisse heute weitreichendere Auswirkungen haben als in der Vergangenheit ist die zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche mit Technologie. Für einen Großteil unserer Aktivitäten sind wir mittlerweile von Computern abhängig. Entsprechend kann jede Krise, wie ein weltweit zuschlagendes Computervirus oder eben ein Sonnensturm, die die IT-Infrastruktur betrifft, das ganze Wirtschaftssystem zum Erliegen bringen. „Ich sehe eine Entwicklung hin zu einer totalen Abhängigkeit von Technologie. Den Vorteilen und dem hohen Nutzen, den die Digitalisierung auf der einen Seite erzeugt, steht auf der anderen Seite ein erhöhtes Risiko gegenüber“, sagt Alan Picone. Einerseits retten die digitale Arbeitsweise und die cloudbasierte Infrastruktur gerade viele Wirtschaftsbereiche in der Covid-19-Krise, weil die Mitarbeiter von Unternehmen dadurch aus dem Büro ins Homeoffice wechseln konnten. Aber wenn die IT-Systeme plötzlich von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktionieren, würde das alles lahmlegen, so Picone. „Zum Beispiel könnten keine Transaktionen mehr durchgeführt werden, das Bankensystem würde komplett kollabieren.“
Egal, welche Form die nächste Wirtschaftskrise annehmen wird, es kann gut sein, dass ihr Ursprung in einer Ecke der Weltwirtschaft zu finden ist, die heute noch niemand auf dem Schirm hat.
Je komplexer der weltwirtschaftliche Austausch ist, umso anfälliger ist er für externe Krisenerscheinungen. Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe
In der Serie „Wirtschaftskrisen“analysiert die Wirtschaftsredaktion des „Luxemburger Wort“die folgenreichsten Wirtschaftseinbrüche des 20. und 21. Jahrhunderts.