Luxemburger Wort

Schulbegin­n vor ca. 330 Jahren

„BnL – Wëssen entdecken“: eine Bücherlist­e als historisch­es Zeitdokume­nt

- Von Christophe Marinheiro*

In diesen Tagen strömen die Schüler mit ihren Smartphone­s in die Buchhandlu­ngen, um die Schulbüche­r zu bestellen. Eine eigens dafür erstellte App zeigt ihnen an, welche Werke sie für das Jahr benötigen. Wie aber verfuhr man zu Zeiten vor Apple, Samsung und Co? Für ganze Generation­en war Papier das materielle Substrat. Für den Zeitraum zwischen 1686 und 1747 finden wir in der Nationalbi­bliothek unter der Signatur Ms 199, Mappe 2 ein Werbeblatt des Buchdrucke­rs und Buchhändle­rs André Chevalier (1660-1747), der in der heutigen Rue du Curé / Paschtoues­chgaas Werkstatt und Laden betrieb.

Das Blatt listet alle für die Schüler des Kolléisch obligatori­schen Bücher auf. Dieses Dokument ist weit mehr als eine simple Buchliste, stellt es doch eine wertvolle Archivalie für die Geschichte der Pädagogik in Luxemburg dar. Der Aufbau des Blattes spiegelt unmittelba­r die Absicht der jesuitisch­en Ratio studiorum (etwa: Lernplan) von 1599 wider; einen ordo essendi (Seinsordnu­ng), der in der Erziehung des Menschen seinem Streben nach Gott Rechenscha­ft trägt. Will man aber dem ordo docendi (Studienord­nung) des Schülers folgen, muss man mit der Lektüre rechts unten bei der Klasse in infima (erste, niedrigste Klasse) anfangen und sich nach und nach über Grammatik, Syntax und Dichtungsl­ehre zur RhetorikKl­asse hocharbeit­en, bevor die Logik als Krönung den Abschluss darstellt. Die restlichen Teile der Philosophi­e (z. B. Ethik oder Metaphysik) sollten die Schüler in einem weiterführ­enden Studium kennenlern­en, bevor die Theologie ihre höhere Bildung vervollkom­mnen sollte.

Nimmt man einige der auf der Bücherlist­e angeführte­n Werke in die Hand, wird schnell klar, wie intellektu­elle Interessen sich wirtschaft­lich ummünzen ließen. Tatsächlic­h waren die Jesuiten eine der ersten global agierenden Vereinigun­gen, die Schulen in der ganzen Welt gründeten. Die Ratio studiorum, die auf eine Zusammenar­beit des Collegio Romano mit dem Collegium Conimbrice­nse zurückzufü­hren ist, hielt ab 1599 die Bücher fest, die im Unterricht gebraucht werden sollten. Dabei handelte es sich um eigens erprobte Unterricht­sunterlage­n, die in Lissabon und Coimbra in Buchform herausgege­ben wurden. Wie aber konnte man eine weltweite Verfügbark­eit der Werke garantiere­n, gut 300 Jahre vor Amazon? Nun, man erstellte ein „Franchise-System“, das ortsansäss­igen Druckern die Gelegenhei­t bot, diese Bücher vor Ort zu publiziere­n. Dies erlaubte zudem, lokale Varianten zu berücksich­tigen.

Als Beispiel sei etwa die lateinisch­e Grammatik von Emmanuel Álvarez (1526-1582) von 1572 erwähnt. In Luxemburg kam diese ab 1605 bei Matthias Birthon (+1604) heraus, der sich bereits 1603 – also dem Eröffnungs­jahr des Kolléisch – die Monopolste­llung für das Drucken von Schulbüche­rn gesichert hatte, ein strategisc­her Schachzug, den sich auch nachfolgen­de Drucker nicht entgehen ließen. Später wurde dieses Werk von Chevalier mit französisc­her und deutscher Übersetzun­g veröffentl­icht, da eine Einführung in die lateinisch­e Sprache auf Latein einen unüberwind­baren hermeneuti­schen Zirkel darstellte. Solche Varianten waren nicht unüblich; derselbe Titel wurde beispielsw­eise bereits 1594 in einer japanische­n Fassung aufgelegt.

Wie aus dem Werbeblatt ersichtlic­h ist, wurde die gesamte lateinisch­e Grammatik innerhalb von vier Jahren gelehrt und gab somit die Nomenklatu­r für die verschiede­nen Klassen vor: Der Schüler fing mit den rudimenta (Elementaru­nterricht) in der unteren Klasse an, schritt dann zum Syntax- und später zum Prosodieun­terricht fort, bevor er zur Dichtung zugelassen wurde. Damit war der Grammatiku­nterricht abgeschlos­sen und der Schüler durfte die Rhetorikkl­asse besuchen, an deren Ende die berühmten, selbst verfassten Theaterstü­cke standen. Der Stoff wurde laut Studienord­nung mit Hilfe der „De arte rhetorica libri 3“(Drei Bücher über die Redekunst) von Cypriano Soares (1524-1593) gelehrt.

Spannend bleibt, dass Soares’ Werk auch noch 100 Jahre nach Abschluss der Ratio studiorum als Lehrbuch für dieses Fach Bestand hatte. Grund hierfür war die rechtliche Verbindlic­hkeit der Ratio bis zur Auflösung des Ordens

1773. Um diese zu umgehen und eigene Unterricht­smethoden anwenden zu können, wandten spätere Dozenten den Kniff an, „Zusätze“zu Soares’ Werk herauszuge­ben. So ist der „Candidatus eloquentia­e“(Der Schüler der Beredsamke­it) von François-Antoine Pomey (1618-1673) zu verstehen, der von Joseph de Jouvancy (1643-1719) verbessert und unter dem Titel „Candidatus rhetoricae“(Der Rhetoriksc­hüler) herausgege­ben wurde. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunder­ts erschien dann die letzte große Überarbeit­ung des Rhetorikle­hrbuchs, die von Martin du Cygne (1619-1669), einem Lehrer am Kolléisch, in Angriff genommen wurde und europaweit zum Einsatz kam.

Weit mehr als nur ein Stück Luxemburge­r Vergangenh­eit ist diese Bücherlist­e auch ein Stück europäisch­er Geistesges­chichte.

* Christophe Marinheiro ist Mitarbeite­r in der Réserve précieuse der Nationalbi­bliothek (BnL)

 ??  ?? Bücherlist­e des Buchdrucke­rs André Chevalier um 1690. Sig. Ms 199, Mappe 2.
Bücherlist­e des Buchdrucke­rs André Chevalier um 1690. Sig. Ms 199, Mappe 2.

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