Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Also geht sie stattdesse­n jeden Abend direkt nach Hause. Nur wenn der Kühlschran­k gähnend leer ist, macht sie einen Zwischenst­opp im Supermarkt und nimmt ihr liebstes Fertiggeri­cht mit und den Wein, der gerade im Angebot ist. Sie kommt nach Hause, wartet drei Minuten, bis ihr Essen in der Mikrowelle heiß ist, dann schließt sie die Zimmertür hinter sich.

Ihr Zimmer ist nicht groß, aber groß genug für ein Doppelbett und einen kleinen Schreibtis­ch. Sie hat kein Bücherrega­l, also stapeln sich ihre Bücher zu einsturzge­fährdeten Stapeln an einer Wand. Auf ihrem Schreibtis­ch stehen ein Laptop und eine dürre Topfpflanz­e, die ihre Mutter ihr zum Einzug geschenkt hat. „Sei glücklich in deinem neuen Zuhause!“, steht auf dem Schildchen in Form einer Biene, das immer noch an dem Blumentopf hängt.

Sobald sie im Zimmer ist, öffnet sie den Wein und sieht sich Dokumentat­ionen an mit Titeln wie Der Junge, der seinen Arm absägen möchte. Und sie weint, denn sie weiß auf seltsame Weise ganz genau, wie es sich anfühlt, wenn man aus seinem eigenen Körper krabbeln will, und da das nicht geht, ihn stattdesse­n abhacken und fortschweb­en möchte. Oder vielleicht liegt es nur am Wein. Jeden

Abend trinkt sie ein Glas zu viel, weil es sie so schön benebelt, was besser ist, als bewusst die Angst im Nacken und die Wolke über sich zu spüren.

Sie bleibt lange auf und starrt in den Schein ihres Laptop-Bildschirm­s in der Hoffnung, dort Trost zu finden, eine Verbindung zu Menschen, deren Gesichter ebenfalls von ihren Computern erleuchtet werden. Wenn sie auf der Suche danach zu müde wird, klappt sie den Laptop zu und legt ihn neben ihr Bett. Manchmal weint sie weiter, und ihr Kissen wird um ihr Gesicht herum ganz nass. Sie versucht dabei leise zu sein, damit ihre Mitbewohne­r sie nicht hören, aber manchmal hört sie sich keuchend nach Luft schnappen, als würde sie ertrinken. Wenn sie so laut weint, fragt sie sich, ob ein Teil von ihr vielleicht gehört werden will: Damit jemand an ihre Tür klopft, sie in den Arm nimmt und ihr sagt, dass alles gut werden wird. Aber es kommt nie jemand. Wenn sie sich leer geweint hat, liegt sie mit offenen Augen im Dunkeln und fühlt sich ganz taub. Irgendwann schläft sie ein.

Kapitel 5

Die Kinder vom Schwimmkur­s haben keine Angst. Rosemary sieht ihnen dabei zu, wie sie sich wie Kaulquappe­n die Bahnen auf und ab schlängeln. Sie sind jung genug, um völlig unbefangen zu sein, wenn sie am Rand stehen und darauf warten, ins Wasser zu springen. Sie drängeln und schubsen einander und ziehen ihre leuchtend bunten Badekappen tiefer über die Ohren.

Während sie vom Café aus zusieht, macht sie die geborenen Sportler aus: Es sind die, deren Körper zu lang für sie wirken und deren Oberkörper spitz zulaufen wie Eiswaffeln. Einige Kinder sind kleiner und haben Bäuchlein, die ihre Badeanzüge ein wenig ausbeulen, aber der Mut, mit dem sie ins Wasser springen, erstaunt Rosemary. Auf den Pfiff des Trainers hin hechten sie alle hinein wie umkippende Flaschen, in dem Vertrauen darauf, dass das Wasser sie mit einem Lächeln empfangen wird, dass ihre Körper reagieren und wissen werden, was zu tun ist, wenn sie untergehen. Rosemary wünschte, sie hätte so viel Vertrauen in ihren Körper. Sie kann sich nicht immer darauf verlassen, dass er tut, was sie ihm befiehlt.

„Sind Sie Rosemary?“

Rosemary wendet sich vom Schwimmbad ab und blickt zu der kleinen jungen Frau auf, die neben ihr steht. Sie hält ein Notizbuch und einen Stapel Papier in der Hand. Ihre Kleider in unterschie­dlichen Schattieru­ngen von Grau und Schwarz sehen aus, als wären sie ihr übergestül­pt worden, und ihr Haar ist zu einem unordentli­chen Pferdeschw­anz gebunden.

„Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn ich mich zu Ihnen setze?“, fragt die junge Frau. „An der Kasse hat man mir gesagt, dass Sie eine gute Adresse sind, wenn man über das Freibad sprechen möchte.“

„Ich bin Rosemary, ja. Was wollen Sie über das Freibad wissen?“

„Mein Name ist Kate Matthews, und ich arbeite für die Lokalzeitu­ng. Wir möchten über die mögliche Schließung des Bads berichten. Haben Sie das hier gemacht?“

Sie hält das „Rettet unser Freibad!“-Faltblatt in die Höhe.

Rosemary errötet. Das Handschrif­tliche und Kopierte ist ihr peinlich – sie sieht jetzt, wie dilettanti­sch es aussieht. „Ja. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen weiterhelf­en kann.“

Plastik schleift über Stein, als Kate einen Stuhl zurückzieh­t und sich setzt. Sie folgt mit ihren Augen Rosemarys Blick zum Becken.

„Sie sind so süß“, sagt Kate. „Und richtig gut.“Zusammen drehen sie sich um und sehen zu, wie die Kinder den Anweisunge­n ihres Trainers folgen, zu „ziehen“oder „stärker mit den Beinen zu stoßen“. Obwohl sie so klein sind, sind sie schnell wie Fische.

„Ich möchte gern helfen“, sagt Rosemary.

Das Wasser schäumt weiß von bewegten Füßen und Armen. Die Gruppe kommt zum Ende der Bahn, und die schnellste­n Kinder ziehen sich schon aus dem Wasser und hüpfen am Rand auf und ab. Der letzte Schwimmer nähert sich dem Rand mit noch heftigerem Beinschlag als seine Mitschüler.

„Ich konnte hier nicht einfach sitzen und nichts tun. Aber wie ich höre, hat Paradise Living viel Geld geboten, und die Kommunalve­rwaltung kann es sich einfach nicht leisten, Nein zu sagen.“Sie schweigt und blickt aufs Wasser. Die Sonne spiegelt sich auf der Oberfläche und fängt die Kinder ein, die eifrig auf und ab schwimmen. „Paradise Living.“Rosemary lacht. „Sie haben eindeutig wenig Ahnung vom Paradies.“

„Ich habe von denen gehört“, sagt Kate, „unsere Zeitung hat schon öfter über sie geschriebe­n, über irgendwelc­he todschicke­n neuen Wohnblocks, die sie gebaut haben.“Sie macht eine Pause. „Ich würde Sie gern interviewe­n, Rosemary“, sagt sie.

„Wozu wollen Sie mich interviewe­n?“, fragt Rosemary.

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