Forscher als Versuchskaninchen
Biochemiker Preston Estep will schnell und unbürokratisch einen günstigen Covid-19-Impfstoff austüfteln
Ein im Lockdown vereinsamter Forscher sieht Menschen um sich herum an einem neuen Virus sterben. Er mietet sich ein Labor, trommelt online Wissenschaftlerkollegen zusammen und mischt sich dann mit seinem neu gesammelten Wissen einen Impfstoff. Das tönt nach Romanvorlage oder Hollywood-Drehbuch. Und natürlich nach einem unerschrockenen amerikanischen Helden. Mann gegen Virus. Noch ist das Ende offen, aber der Beginn der Geschichte ist Realität:
Im März hat der Biochemiker Preston Estep in einem gemieteten Labor in Boston eine simple Vakzine aus nur fünf Zutaten gegen SARS-CoV-2 gemischt und sie sich dann per Nasenspray verabreicht. Mehr als zwanzig Kollegen, aber auch Familienmitglieder haben es ihm seitdem nachgemacht. Vor Kurzem hat die Gruppe namens Radvac die Anleitung für das Produkt im Internet publiziert, versehen mit zahlreichen Warnhinweisen für eventuelle Nachahmer, dass es kein geprüftes Produkt und keine überwachte klinische Studie sei, es weder Betreuer noch eine Therapie gebe.
Ist da nun ein ruhmsüchtiger Scharlatan am Werk – oder vielmehr ein innovativer Kopf, der die Welt ein bisschen sicherer macht? Estep ist kein wissenschaftlicher Niemand, sondern Forscher, der unter anderem an der Harvard University gearbeitet und diverse Biotechfirmen mitgegründet hat. Zu seinen Radvac-Mitstreitern zählt George Church, ein nicht nur in der Fachwelt bekannter Genomexperte der Harvard-Universität. Allerdings wurde der oft auch als Genetik-Punk bezeichnete Church bisher sowohl durch innovative seriöse Forschung, zum Beispiel im Bereich der Gensequenzierung, bekannt als auch durch teilweise bizarre oder zumindest sehr ungewöhnliche Ideen und Projekte.
Keine Scharlatane
Ein Blick auf die 59 Seiten lange Anleitung von Radvac inklusive Zitaten aus fast 200 neueren wissenschaftlichen Studien macht klar, dass es sich bei der Truppe offenbar nicht um Scharlatane handelt. Ihr Impfstoff wirkt durchdacht. Er besteht aus mehreren kleinen SARS-CoV-2-Fragmenten, die alle von Proteinen des Virus stammen. Gemäß der Fachliteratur erkennt unser Immunsystem alle diese Viruspeptide als fremd. Die RadvacForscher hoffen daher nicht völlig zu Unrecht, dass diese Viruspeptide eine Immunantwort gegen SARS-CoV-2 auslösen. Weitere Bestandteile des Impfstoffs sind stabilisierende Pufferlösungen sowie Chitosan. Dieses Molekül kommt in den Schalen von Krebsen vor; es soll die Viruspeptide verpacken und in Zellen einschleusen. Zudem soll es das Immunsystem ein wenig anheizen.
Verabreicht wird die RadvacVakzine per Nasenspray. Das sei erstens einfacher, und zweitens könne so direkt am Ort des Eindringens des Coronavirus eine Immunität aufgebaut werden, erläuterte Church gegenüber der „MIT
Technology Review“. Aber wirkt das Spray? Dazu gibt es keine Veröffentlichungen und auch keine persönlichen Aussagen. Man teste und suche Fachkollegen mit Expertise und der geeigneten Laborausstattung dafür, heißt es auf der Website von Radvac.
Skepsis ist durchaus angebracht. Denn bisher wurden zwar gegen diverse Erreger Peptidimpfstoffe entwickelt. Manche befinden sich in kleinen klinischen Studien. Doch noch wurde kein nur auf Peptiden basierender Impfstoff zugelassen. Die Erfahrungen zeigen, dass in der Regel die ausgelöste Immunantwort sehr schwach ist, so dass es keinen wirklichen Schutz gibt. Peptidvakzine werden zudem für Krebstherapien erprobt. Hier soll das Immunsystem angeregt werden, Tumorzellen zu vernichten.
Für die Probanden eindeutig schlimmer als ein wirkungsloses Spray wäre, wenn die Vakzine selber gefährlich wäre. Church sagte gegenüber dem MIT-Magazin, dass er nur das Virus für schädlich halte. Zu einer massenhaften Anwendung der Vakzine Marke Eigenbau durch impfwillige Laien wird es vermutlich kaum kommen, denn zum Mischen braucht es nicht nur Zutaten und diverse Spezialgeräte – wer hat schon eine Eppendorfröhrchenzentrifuge zu Hause –, sondern auch Laborerfahrung.
In den USA ist nun unter Experten eine Debatte entbrannt, ob solche selbst gemachten Vakzine und deren Einnahme legal sind und ob man das staatlich strenger überwachen sollte.
Ums Geld geht es der RadvacTruppe nicht; sie verkauft weder Zutaten noch Gerätschaften. Sogar das Rezept gibt es umsonst, es würden keine Patente angestrebt, heißt es auf der Website. Doch warum gehen sie nicht den üblichen Weg von der Idee über Tierversuche bis zur kleinen klinischen Studie? Man wolle schnell und unbürokratisch eine billige Vakzine austüfteln, die in jedem Arztlabor zusammengemischt werden könnte, sagen Estep
und seine Mitstreiter gegenüber dem MIT-Magazin. Man wolle zudem Daten sammeln über die Reaktion des Immunsystems, um so generell die Entwicklung von SARS-CoV-2-Vakzinen zu verbessern. Also sind sie wirklich selbstlose Wissenschaftler, im Einsatz für andere?
Tatsächlich weiß derzeit niemand, was genau eine erfolgreiche SARS-CoV-2-Vakzine ausmacht. Estep listet in den 59 Seiten mehrere wissenschaftlich einleuchtende Argumente auf, warum manche der sich derzeit bereits in klinischen Studien befindenden Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 eher keinen langanhaltenden Schutz bieten könnten. Zudem weisen Experten seit Monaten darauf hin, dass deshalb weiterhin Alternativen zu den getesteten Impfstoffen entwickelt werden müssten.
Selbstversuche haben Tradition
Der Bioethiker Arthur Caplan von der New York University hält das Radvac-Projekt dessen ungeachtet für „moralisch beunruhigend“, wie er in einem Kommentar der Fachzeitschrift „Science“schreibt. Denn solche Selbstversuche könnten schiefgehen, und sie könnten nicht erfüllbare Hoffnungen wecken. Das untergrabe das Vertrauen in Impfstoffe und die Wissenschaft insgesamt.
Allerdings haben Selbstversuche von Medizinern wie auch Forschern eine lange Tradition. Klassische Beispiele dafür sind die Selbsterprobung des Herzkatheters, aber auch von Medikamenten-Prototypen oder Vakzinen. Hans Georg Rammensee, Immunologe an der Universität Tübingen, hat sich ebenfalls im Frühjahr eine selbst gemischte Vakzine, bestehend aus Proteinfragmenten von SARS-CoV-2, in den Bauchraum injiziert. „Ich weiß, was ich da tue“, betont er im Gespräch. „Aber ich habe allen meinen Labormitarbeitern verboten, das auch zu machen.“
In gewisser Weise abhängige Mitmenschen zu etwas völlig Experimentellem anzuleiten, sei nicht vertretbar. „Aber wenn sonst irgendjemand meine publizierte Anleitung verwenden will, finde ich das nicht schlimm.“Selbstversuche sparten Zeit und Geld, sagt Rammensee. Er hält die Ergebnisse zudem für aussagekräftiger als jene aus Tierversuchen. Seine Selbstversuch-Vakzine wurde mittlerweile basierend auf Covid19-Patientendaten noch etwas verändert, nun wartet das Tübinger Team auf die Genehmigung einer klinischen Studie dafür.
Zu einer massenhaften Anwendung durch impfwillige Laien wird es kaum kommen, denn zum Mischen braucht es diverse Spezialgeräte und Laborerfahrung.