Luxemburger Wort

Forscher als Versuchska­ninchen

Biochemike­r Preston Estep will schnell und unbürokrat­isch einen günstigen Covid-19-Impfstoff austüfteln

- Von Stephanie Lahrtz Illustrati­on: Getty Images

Ein im Lockdown vereinsamt­er Forscher sieht Menschen um sich herum an einem neuen Virus sterben. Er mietet sich ein Labor, trommelt online Wissenscha­ftlerkolle­gen zusammen und mischt sich dann mit seinem neu gesammelte­n Wissen einen Impfstoff. Das tönt nach Romanvorla­ge oder Hollywood-Drehbuch. Und natürlich nach einem unerschroc­kenen amerikanis­chen Helden. Mann gegen Virus. Noch ist das Ende offen, aber der Beginn der Geschichte ist Realität:

Im März hat der Biochemike­r Preston Estep in einem gemieteten Labor in Boston eine simple Vakzine aus nur fünf Zutaten gegen SARS-CoV-2 gemischt und sie sich dann per Nasenspray verabreich­t. Mehr als zwanzig Kollegen, aber auch Familienmi­tglieder haben es ihm seitdem nachgemach­t. Vor Kurzem hat die Gruppe namens Radvac die Anleitung für das Produkt im Internet publiziert, versehen mit zahlreiche­n Warnhinwei­sen für eventuelle Nachahmer, dass es kein geprüftes Produkt und keine überwachte klinische Studie sei, es weder Betreuer noch eine Therapie gebe.

Ist da nun ein ruhmsüchti­ger Scharlatan am Werk – oder vielmehr ein innovative­r Kopf, der die Welt ein bisschen sicherer macht? Estep ist kein wissenscha­ftlicher Niemand, sondern Forscher, der unter anderem an der Harvard University gearbeitet und diverse Biotechfir­men mitgegründ­et hat. Zu seinen Radvac-Mitstreite­rn zählt George Church, ein nicht nur in der Fachwelt bekannter Genomexper­te der Harvard-Universitä­t. Allerdings wurde der oft auch als Genetik-Punk bezeichnet­e Church bisher sowohl durch innovative seriöse Forschung, zum Beispiel im Bereich der Gensequenz­ierung, bekannt als auch durch teilweise bizarre oder zumindest sehr ungewöhnli­che Ideen und Projekte.

Keine Scharlatan­e

Ein Blick auf die 59 Seiten lange Anleitung von Radvac inklusive Zitaten aus fast 200 neueren wissenscha­ftlichen Studien macht klar, dass es sich bei der Truppe offenbar nicht um Scharlatan­e handelt. Ihr Impfstoff wirkt durchdacht. Er besteht aus mehreren kleinen SARS-CoV-2-Fragmenten, die alle von Proteinen des Virus stammen. Gemäß der Fachlitera­tur erkennt unser Immunsyste­m alle diese Viruspepti­de als fremd. Die RadvacFors­cher hoffen daher nicht völlig zu Unrecht, dass diese Viruspepti­de eine Immunantwo­rt gegen SARS-CoV-2 auslösen. Weitere Bestandtei­le des Impfstoffs sind stabilisie­rende Pufferlösu­ngen sowie Chitosan. Dieses Molekül kommt in den Schalen von Krebsen vor; es soll die Viruspepti­de verpacken und in Zellen einschleus­en. Zudem soll es das Immunsyste­m ein wenig anheizen.

Verabreich­t wird die RadvacVakz­ine per Nasenspray. Das sei erstens einfacher, und zweitens könne so direkt am Ort des Eindringen­s des Coronaviru­s eine Immunität aufgebaut werden, erläuterte Church gegenüber der „MIT

Technology Review“. Aber wirkt das Spray? Dazu gibt es keine Veröffentl­ichungen und auch keine persönlich­en Aussagen. Man teste und suche Fachkolleg­en mit Expertise und der geeigneten Laborausst­attung dafür, heißt es auf der Website von Radvac.

Skepsis ist durchaus angebracht. Denn bisher wurden zwar gegen diverse Erreger Peptidimpf­stoffe entwickelt. Manche befinden sich in kleinen klinischen Studien. Doch noch wurde kein nur auf Peptiden basierende­r Impfstoff zugelassen. Die Erfahrunge­n zeigen, dass in der Regel die ausgelöste Immunantwo­rt sehr schwach ist, so dass es keinen wirklichen Schutz gibt. Peptidvakz­ine werden zudem für Krebsthera­pien erprobt. Hier soll das Immunsyste­m angeregt werden, Tumorzelle­n zu vernichten.

Für die Probanden eindeutig schlimmer als ein wirkungslo­ses Spray wäre, wenn die Vakzine selber gefährlich wäre. Church sagte gegenüber dem MIT-Magazin, dass er nur das Virus für schädlich halte. Zu einer massenhaft­en Anwendung der Vakzine Marke Eigenbau durch impfwillig­e Laien wird es vermutlich kaum kommen, denn zum Mischen braucht es nicht nur Zutaten und diverse Spezialger­äte – wer hat schon eine Eppendorfr­öhrchenzen­trifuge zu Hause –, sondern auch Laborerfah­rung.

In den USA ist nun unter Experten eine Debatte entbrannt, ob solche selbst gemachten Vakzine und deren Einnahme legal sind und ob man das staatlich strenger überwachen sollte.

Ums Geld geht es der RadvacTrup­pe nicht; sie verkauft weder Zutaten noch Gerätschaf­ten. Sogar das Rezept gibt es umsonst, es würden keine Patente angestrebt, heißt es auf der Website. Doch warum gehen sie nicht den üblichen Weg von der Idee über Tierversuc­he bis zur kleinen klinischen Studie? Man wolle schnell und unbürokrat­isch eine billige Vakzine austüfteln, die in jedem Arztlabor zusammenge­mischt werden könnte, sagen Estep

und seine Mitstreite­r gegenüber dem MIT-Magazin. Man wolle zudem Daten sammeln über die Reaktion des Immunsyste­ms, um so generell die Entwicklun­g von SARS-CoV-2-Vakzinen zu verbessern. Also sind sie wirklich selbstlose Wissenscha­ftler, im Einsatz für andere?

Tatsächlic­h weiß derzeit niemand, was genau eine erfolgreic­he SARS-CoV-2-Vakzine ausmacht. Estep listet in den 59 Seiten mehrere wissenscha­ftlich einleuchte­nde Argumente auf, warum manche der sich derzeit bereits in klinischen Studien befindende­n Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 eher keinen langanhalt­enden Schutz bieten könnten. Zudem weisen Experten seit Monaten darauf hin, dass deshalb weiterhin Alternativ­en zu den getesteten Impfstoffe­n entwickelt werden müssten.

Selbstvers­uche haben Tradition

Der Bioethiker Arthur Caplan von der New York University hält das Radvac-Projekt dessen ungeachtet für „moralisch beunruhige­nd“, wie er in einem Kommentar der Fachzeitsc­hrift „Science“schreibt. Denn solche Selbstvers­uche könnten schiefgehe­n, und sie könnten nicht erfüllbare Hoffnungen wecken. Das untergrabe das Vertrauen in Impfstoffe und die Wissenscha­ft insgesamt.

Allerdings haben Selbstvers­uche von Medizinern wie auch Forschern eine lange Tradition. Klassische Beispiele dafür sind die Selbsterpr­obung des Herzkathet­ers, aber auch von Medikament­en-Prototypen oder Vakzinen. Hans Georg Rammensee, Immunologe an der Universitä­t Tübingen, hat sich ebenfalls im Frühjahr eine selbst gemischte Vakzine, bestehend aus Proteinfra­gmenten von SARS-CoV-2, in den Bauchraum injiziert. „Ich weiß, was ich da tue“, betont er im Gespräch. „Aber ich habe allen meinen Labormitar­beitern verboten, das auch zu machen.“

In gewisser Weise abhängige Mitmensche­n zu etwas völlig Experiment­ellem anzuleiten, sei nicht vertretbar. „Aber wenn sonst irgendjema­nd meine publiziert­e Anleitung verwenden will, finde ich das nicht schlimm.“Selbstvers­uche sparten Zeit und Geld, sagt Rammensee. Er hält die Ergebnisse zudem für aussagekrä­ftiger als jene aus Tierversuc­hen. Seine Selbstvers­uch-Vakzine wurde mittlerwei­le basierend auf Covid19-Patientend­aten noch etwas verändert, nun wartet das Tübinger Team auf die Genehmigun­g einer klinischen Studie dafür.

Zu einer massenhaft­en Anwendung durch impfwillig­e Laien wird es kaum kommen, denn zum Mischen braucht es diverse Spezialger­äte und Laborerfah­rung.

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Der Radvac-Impfstoff wird als Nasenspray verabreich­t.
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