Verdrehte Wirklichkeit
In einer Bürgersprechstunde mit unentschlossenen Wählern wird Donald Trump mit der Realität im Land konfrontiert
Die Fragestellerin im National Constitution Center schaut den Präsidenten ungläubig an, als dieser versucht, seine eigenen Worte umzudrehen. Die schwarze Frau wollte von Trump in der ersten Bürgersprechstunde des Wahlkampfs im Fernsehsender ABC wissen, warum er wissentlich eine tödliche Pandemie „heruntergespielt“habe, wenn die Sicherheit der Amerikaner doch die wichtigste Aufgabe eines Präsidenten sei.
„Ich habe das nicht heruntergespielt, sondern es durch mein Handeln in vielen Fällen hervorgehoben“, antwortete Trump der verblüfften Wählerin. Die hatte mit eigenen Ohren gehört, wie der Präsident dem Starreporter der Washington Post Bob Woodward genau das Gegenteil sagte. Auf dem Audio-Mitschnitt eines von insgesamt achtzehn Interviews gibt der Präsident am 19. März zu, den Amerikanern absichtlich nicht die volle Wahrheit über die Gefahren des Covid-19-Erregers gesagt zu haben.
„Ich wollte das immer herunterspielen“, sagt Trump klar vernehmbar und fügt hinzu: „Ich möchte es immer noch herunterspielen, weil ich keine Panik erzeugen will.“
Genau das versuchte Trump weiterhin in der Bürgersprechstunde, in der er sich kritischen Fragen unentschiedener Wähler ausgesetzt sah. „Ich bleibe dabei, das Virus wird verschwinden selbst ohne Impfstoff“, behauptete der Präsident. „Wir sind an einem Wendepunkt der Krise“.
Ein Präsident im Widerspruch zu den Experten
Der Präsident bezog damit eine Position, die im Widerspruch zur Einschätzung seiner eigenen Experten steht. Der Chef des „Nationalen Instituts für Infektionen und Allergien“, Anthony Fauci, hatte die Amerikaner gerade erst eindringlich dazu aufgefordert, die Bedrohung durch den Erreger ernst zu nehmen. Selbst mit einem Impfstoff werde „der Alltag nicht vor Ende 2021 zur Normalität zurückkehren“. Trump gab in der Bürgersprechstunde zu erkennen, dass er „Herden-Immunität“als gangbaren Weg betrachtet. Wobei er bei seiner Antwort den falschen Begriff dafür gebrauchte. Es entwickele sich auch über die Zeit eine „Herdenmentalität“, sagte Trump. „Sie wird von der Herde entwickelt, und das wird passieren“.
Experten gehen davon aus, dass sich das Virus bei einer Infektionsrate von 60 bis 70 Prozent der gesamten Bevölkerung nicht mehr verbreiten kann. Das wären rund 200 Millionen Erkrankte. Konsens unter den Wissenschaftlern ist, dass dies angesichts der Tödlichkeit des Virus kein akzeptabler Weg ist. Bisher haben sich 6,6 Millionen
Amerikaner nachgewiesenen mit dem Covid-19-Erreger infiziert. Fast 200 000 davon sind der Krankheit erlegen.
Trump spielt erneut Bedeutung von Masken herunter
Eine andere Wählerin will wissen, warum der Präsident nicht vorbehaltlos das Tragen von Masken unterstützt. „Eine Menge Leute mögen es nicht, Masken zu tragen“, sagt Trump, der selber in der Öffentlichkeit keinen Mund- und Nasenschutz trägt. „Es gibt eine Menge Leute, die denken, das sei nicht gut“. Moderator George Stephanopoulos hakt nach. Wer dies denn sei? „Ich kann Ihnen sagen, wer das ist: Kellner“, antwortet Trump. Die störe die Maske so sehr, dass sie damit herumspielten. „Sie fassen sie an und anschließend ihren Teller. Das kann nicht gut sein.“
Das Herunterspielen der Nützlichkeit von Masken steht ebenfalls im Widerspruch zum Konsens der eigenen Experten und Gesundheitsbehörden. Die eigenen Worte des Präsidenten lassen zudem keinen Zweifel daran, dass er den Ernst der Lage verstanden hat. „Sie brauchen nur die Luft einzuatmen und schon haben sie sich angesteckt“, spricht Trump am 7. Februar, lange vor Beginn der Pandemie in den USA, Watergate-Reporter Woodward auf Band. „Das ist sehr viel tödlicher als selbst eine starke Grippe“, meinte der Präsident und fügte emphatisch hinzu: „Das ist tödliches Zeug.“
Woodward begründete das Leugnen Trumps seiner eigenen Worte in einem Interview mit CNN mit Zweifeln an der Fähigkeit des Präsidenten, „die Dinge in seinem Kopf klarzukriegen“. Ehrlich gesagt wisse er nicht, ob Trump noch unterscheiden könne, „was real und was nicht real ist“. Kritischen Fragen musste sich Trump auch zu den Protesten gegen die Polizeigewalt, seinem Verhältnis zur afroamerikanischen Gemeinde und seiner Haltung zum Militärdienst stellen. Sichtlich aufgeregt reagierte er auf einen Bericht des renommierten Magazins „The Atlantic“, nach dem er Kriegstote als „Verlierer“und „arme Schlucker“denunziert und sein Unverständnis darüber geäußert haben soll, wie jemand freiwillig Soldat werden könne. „Alles Fake News“.
Trump steht so kurz vor den Wahlen vor der Aufgabe, unentschiedene Wähler zu überzeugen. Gemessen am Verlauf und den Reaktionen im Publikum der Bürgersprechstunde dürfte er nach Ansicht unabhängiger Beobachter nicht viele überzeugt haben.