Luxemburger Wort

Eine Flasche Wasser und eine demontiert­e Überwachun­gsanlage

Der russische Opposition­spolitiker Alexei Nawalny wurde augenschei­nlich in seinem Hotelzimme­r in Tomsk vergiftet

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Ein unaufgeräu­mtes Hotelzimme­r, eine Bettdecke liegt auf dem Boden. Auf dem Tisch stehen zwei scheinbar leere Halbliterf­laschen „Swatoj Istotschni­k“, eine russische Mineralwas­sermarke. Eine dritte Flasche steht halb voll auf einer Kommode. Männer mit Kunststoff­handschuhe­n verpacken sie und andere Utensilien in blauen Tüten. „Wenn Sie etwas mitnehmen wollen, der Direktor hat gesagt, nur über die Polizei“, erklärt eine Mitarbeite­rin des Hotels. „Leider können wir dieser Forderung nicht nachkommen“, antwortet einer der Männer und wechselt das Thema: „Hat niemand die Flaschen mit den Händen angefasst?“

Gestern veröffentl­ichte Alexei Nawalnys Stab auf Instagram ein

Video, das zeigt, wie Mitarbeite­r seines Recherchet­eams am Morgen des 20. August im Hotel Xander in Tomsk mehrere Plastikfla­schen sicherstel­lten. Auf einer Flasche haben deutsche Experten Spuren des Nervenkamp­fstoffes „Nowitschok“gefunden, der Nawalny an jenem Morgen auf dem Flug von Tomsk nach Moskau ins Koma beförderte.

Zimmer 239 als Tatort

Das beweise, heißt es in dem Instagram-Post, dass Nawalny vergiftet wurde, bevor er sein Hotelzimme­r verließ, um zum Flughafen zu fahren.

Ein gestern erschienen­er Bericht des Moskauer Recherchep­ortals Projekt bestätigt Zimmer 239 des Vier-Sterne Hotels als Tatort. Eine Standardnu­mmer für etwa 60 Euro. Und ein Projektfot­o zeigt eine Überwachun­gskamera auf dem Flur direkt über der Zimmertür. Laut dem Portal wurden inzwischen alle Server des Hotel-Videosyste­ms von russischen Sicherheit­sbeamten demontiert und beschlagna­hmt. „In diesem Fall haben die Sicherheit­sorgane die Möglichkei­t, im Detail zu rekonstrui­eren, was vor Nawalnys Zimmer an jenem Tag, am Abend und am Morgen geschehen ist“, schreibt Projekt. „Natürlich nur, wenn sie das wünschen.“

Nawalny war mit seinem Team im Xander für drei Nächte abgestiege­n, sie drehten in Tomsk einen Film über korrupte Lokalparla­mentarier der Staatspart­ei „Einiges Russland“. Die sibirische Transportp­olizei hat Nawalnys Aktivisten befragt, angeblich auch die Hotelvideo­s ausgewerte­t, aber bisher eröffneten die russischen

Behörden keine Ermittlung­sverfahren. Die Staatsagen­tur RIA Nowosti zitierte gestern den Chemiker Leonid Rink, einen der Erfinder des russischen Kampfstoff­es Nowitschok, der die Flasche als „totes Indiz“bezeichnet­e. Wenn jemand Gift auf diese Flasche aufgetrage­n hätte, wären daran außer Nawalny auch alle gestorben, die sie berührten.

Dosiertes Morden

Aber scheinbar wollten die Täter dosiert morden. Wladimir Uglew, ein anderer Nowitschok-Entwickler, sagte Projekt, wenn das Nowitschok im Mineralwas­ser gewesen wäre, hätte Nawalny sich nach dem ersten Schluck in Schüttelkr­ämpfen gewunden, so aber habe er nur etwa 20 Prozent der tödlichen Dosis erhalten. Vier Mitglieder des Nawalny-Filmteams waren in Tomsk geblieben, um die Dreharbeit­en abzuschlie­ßen, sie saßen im Hotel Xander beim Frühstück, als sie gegen zehn Uhr von seiner Vergiftung erfuhren. Sie beschlosse­n sofort, alle Indizien in Raum 239 sicherzust­ellen. Das mag auch der Putzfrau das Leben gerettet haben.

Am 22. August flog Maria Pewtschich, eine der Filmemache­rinnen Nawalnys, mit den Indizien im Gepäck nach Berlin. Der kremlnahe Politologe Alexei Muchin erklärte unserer Zeitung, Nawalny werde nach Russland zurückkehr­en, auch weil er sich hier sicherer fühle. „Er hat ja hier eine staatliche Leibwache“. Die Mitarbeite­r der russischen Geheimdien­ste würden ihn keineswegs beschatten, sondern beschützen. Da fragt sich, womit sie in dieser Nacht im Tomsker Hotel Xander beschäftig­t waren.

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