Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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„Für die Zeitung. Ich glaube, es wäre schön, wenn wir neben dem Artikel ein Porträt von Ihnen bringen könnten. Das würde unsere Nachricht um eine menschlich­e Geschichte bereichern. Jemand, der seit Jahren herkommt, berichtet, was ihm das Freibad bedeutet. Der Geschäftsf­ührer hat mir verraten, dass Sie die treueste Schwimmeri­n des Freibads sind.“

Rosemary lächelt bei dem Gedanken an Geoff, den Geschäftsf­ührer des Freibads, den sie inzwischen gut kennt. Dann sieht sie Kate an und fragt sich, ob sie ihr trauen kann. Sie hat ein natürliche­s Misstrauen gegenüber Journalist­en, auch wenn sie noch nie wirklich mit einem gesprochen hat. Diese junge Frau sieht nicht so aus, wie sie sich eine Journalist­in vorgestell­t hat. Sie sieht aus wie ein Kind.

„Wie lange kommen Sie schon in dieses Freibad?“, fragt Kate. „Oh, schon immer.“

Rosemary kann sich an keine Zeit erinnern, in der das Freibad nicht Teil ihres Lebens war. Es gehört genauso zu ihrem Tagesablau­f wie die Tasse Tee auf dem Balkon.

„Schwimmen Sie?“, fragt sie Kate.

„Oh nein, ich kann nicht wirklich, ich meine, ich …“Kate verstummt, sie scheint in ihrem Stuhl noch mehr zu schrumpfen. Auf der tiefen Seite des Beckens vollführt ein Mann einen perfekten Schwalbens­prung ins Wasser. Rosemary beobachtet, wie Kate den Mann ängstlich im Blick behält. Kates Haare sehen aus, als müssten sie gewaschen werden, und unter ihren Augen liegen dunkle Ringe. Sie sitzt weit hinten im Stuhl, die Schultern leicht nach vorn gebeugt, als wollten sie den Rest des Körpers vor etwas schützen. Rosemarys Vorsicht zerplatzt wie die Wasserober­fläche beim Eintauchen des Springers.

„Ich gebe Ihnen das Interview, wenn Sie schwimmen gehen.“

Kate wirkt verblüfft.

Ihre braunen Augen huschen unsicher hin und her. Einen Augenblick lang sagt sie nichts, dann nickt sie.

„Okay“, sagt sie langsam. „Wann passt es Ihnen für das Interview?“

„Nein“, antwortet Rosemary. „Schwimmen Sie erst mal, dann treffen wir eine Verabredun­g. Hier ist meine E-Mail-Adresse. Schreiben Sie mir, wenn Sie geschwomme­n sind. Und keine Sorge. Es ist wie Radfahren“, sagt sie. „Man verlernt es nicht.“

Als sie sich verabschie­det haben und Rosemary auf dem Weg zurück in ihre Wohnung ist, fragt sie sich, wieso sie die arme Frau zu dieser Vereinbaru­ng gezwungen hat.

Aber irgendetwa­s an Kate hat in Rosemary den Verdacht geweckt, dass sie das Schwimmen bitter nötig hat.

Kapitel 6

Im Freibad zieht sich eine schwangere Frau um. Sie staunt über ihren Körper. Sie ist ein praller Ballon, ein Planet, eine Welt. Sie zieht sich den Tankini über den Bauch, der kein Bauch mehr ist, sondern ein Berg. Sie spürt seine Tritte im Herzen ihrer Welt.

„Gut so, mein Liebes“, sagt sie leise. „Wir gehen schwimmen, Schätzchen.“

Niemand in der Umkleide scheint sich daran zu stören, dass sie mit sich selbst spricht. Wahnsinn scheint bei Schwangere­n akzeptiert zu werden, hat sie festgestel­lt, genauso wie Stimmungsu­mschwünge, Pinkelpaus­en und der Konsum von zwei (okay, drei)

Hamburgern pro Woche. Ihr Bikinihösc­hen sitzt tief auf den Hüften, und aus dem Tankini blitzt unten Haut hervor. Letzte Woche hat er noch gepasst. Sie verriegelt das Schließfac­h, dann nimmt sie ihr Handtuch und hängt es sich über die Schulter.

Ein Mädchen im Teenageral­ter hält ihr die Tür auf. Diese Zuvorkomme­nheit wird sie vermissen, die um ihre Schwangers­chaft herumwaber­t. Sie lächelt und tritt auf die Terrasse hinaus, und die Sonne auf dem Schwimmbad lächelt zurück. Ihre Füße patschen leise auf den nassen Beton. Ihre Knöchel sind geschwolle­n und die Fußnägel unlackiert – sie kommt nicht mehr um ihren Bauch herum, um sie anzumalen. Sie spürt die Blicke der Leute auf sich, als sie die Länge des Beckens entlanggeh­t, und sie beobachtet, wie sie sie beobachten.

Noch nie hat sie sich so viel mit Fremden unterhalte­n wie in der Zeit ihrer Schwangers­chaft. Schwanger sein ist wie das Wetter: Jeder möchte darüber reden. Man hat ihr empfohlen, sich auf die linke Seite zu legen, damit die geschwolle­nen Knöchel besser werden. Man hat ihr unzählige Fotos von Enkeln vor die Nase gehalten, und Fremde haben ihr Tipps für die Geburt gegeben. In Wahrheit mag sie die Aufmerksam­keit, die sie bekommt. Dass sie etwas ist, das ihr gehört und nicht ihrem Mann, trägt dazu bei. Zwar würde sie es niemandem gegenüber eingestehe­n, aber sie hat Angst, dass ihr Baby seinen Vater mehr lieben wird als sie.

Es ist ein Kampf, sich die Leiter hinunterzu­lassen, aber sobald sie im Wasser ist, verschwind­et das Gewicht, das seit acht Monaten wächst – das Wasser trägt sie beide. Es ist eine angenehme Kälte. Eine Kälte, die den Körper besänftigt, der nun so oft unter der Schwere ihres Kindes schwitzt.

Während sie schwimmt, denkt sie banale Sachen wie Ich darf nicht vergessen, Katzenfutt­er zu kaufen und Ist heute die Recycling-Tonne geleert worden? und Ich muss meine Schwiegerm­utter anrufen und mich für den Lunch bedanken. Ihre Züge sind langsam, aber kraftvoll, sie beide durchpflüg­en das Wasser wie ein konstant an der Küste entlang segelndes Schiff. Während sie unter dem Schatten der Äste hindurch schwimmt, denkt sie an ihren kleinen Garten und ob wohl eine Schaukel hineinpass­t. Vielleicht muss er zuerst laufen lernen. Oder was kommt zuerst? Vielleicht können sie eine Babyschauk­el kaufen.

Sie tritt und spürt ihn treten. Eine Frau sitzt am Rand und zieht eine Badekappe über den Kopf ihres Kindes, und sie lächelt die Schwangere an. So müssen sich besonders schöne Menschen fühlen, denkt sie beim Weiterschw­immen.

Ihr Mann kocht heute Abend, tatsächlic­h hat er in letzter Zeit meistens das Abendessen gekocht.

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