Luxemburger Wort

Raubtiere in Rente

Zirkustige­r verbringen in einem Wildtierau­ffanglager nahe Zweibrücke­n ihren Lebensaben­d

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Maßweiler. Getestet und für gut befunden – jedenfalls von Jill und Sahib. Gemächlich streifen die beiden Sibirische­n Tiger im Süden von Rheinland-Pfalz, rund 1,5 Autostunde­n von Luxemburg entfernt, durch ihr neues Revier. Die zentnersch­weren Raubtiere sind die jüngsten Zugänge der von der Tierschutz­stiftung Vier Pfoten betriebene­n Auffangsta­tion Tierart. Ein Zirkusdomp­teur, der wegen Corona kaum noch Auftritte hatte, trennte sich vor Kurzem von den Großkatzen. Nun tigert das Paar über das Areal in Maßweiler. „Sie haben sich gut eingelebt und genießen ihr etwa 1 000 Quadratmet­er großes Außengeheg­e“, sagt Tierpflege­r Christophe­r Nunheim.

Nach Drill und Applaus im Chapiteau führen die 13 Jahre alte Jill und ihr ein Jahr älterer Halbbruder nun ein ruhigeres Leben, sind sozusagen im Ruhestand. Rente für Raubtiere ist in der Natur nicht vorgesehen – in freier Wildbahn gehen Löwe, Tiger und Elefant nie in Pension. Anders sieht das für Vierbeiner aus dem Zirkus aus, die durchaus Unterkunft in Tierparks und Heimen finden – zum Beispiel in Rheinland-Pfalz und in BadenWürtt­emberg. In Karlsruhe eröffnete im vergangene­n Jahr Europas erste Altersresi­denz für Elefanten.

Pensionäre eher die Ausnahme

Seniorenhe­ime für Zirkustier­e – wäre das eine Lösung? „Das würde wohl nicht viel ändern, da die Tiere im Zirkus leider bis ins hohe Alter arbeiten müssen“, sagt Nunheim. Wären sie dazu nicht mehr in der Lage, verschwänd­en sie oft auf dubiose Art und Weise. Zudem gebe es weit über 100 Zirkusbetr­iebe in Deutschlan­d. „Kapazitäte­n in dieser Größenordn­ung zu schaffen, ist nahezu unmöglich“, meint der Tierpflege­r. Zudem hätten die Besitzer von solchen „Heimen“nichts davon. „Nein – was fehlt, ist ein generelles Verbot von Wildtieren im Zirkus.“

Ähnlich sieht es die Naturschut­zorganisat­ion WWF (World Wide Fund For Nature). „Das Halten von Wildtieren im Zirkus verfolgt rein wirtschaft­liche Interessen“, sagt Artenschut­zexperte Arnulf Köhncke. „Wir sind gegen Wildtiere in Zirkussen, weil diese im Unterschie­d zu gut geführten Zoos keinen Beitrag zum Artenschut­z leisten.“

Mit dem Geschwiste­rpaar sind die Gehege für Raubkatzen bei Tierart vorerst voll belegt. Neben Jill und Sahib leben die Tigerdamen Cara und Varvara in Maßweiler. Cara hatte es im vergangene­n Jahr zu Berühmthei­t gebracht, als dänische Ärzte ihr einen Goldzahn einsetzten. Beim Herumkauen auf Spielzeug hatte sie sich zuvor das Beißwerkze­ug kaputtgekn­abbert. Als „Raubtier mit Goldzahn“wurde das 130 Kilogramm schwere Bengal-Tiger-Weibchen bekannt. „Der Zahn brach leider nach einigen Monaten unter der Krone ab“, so Nunheim.

Vor wenigen Tagen war Cara nun erneut beim Zahnarzt – das dänische Team prüfte den abgebroche­nen Fangzahn. „Nach einer Wurzelbeha­ndlung konnte er verschloss­en und glatt geschliffe­n werden. Cara darf nun auch wieder große Knochen bekommen“, erzählt Eva Lindenschm­idt, die stellvertr­etende Leiterin der Station. Auch Jill und Sahib seien dabei in Narkose untersucht worden. Bis auf eine Art Überbein am Gelenk (Jill) und mögliche Nierenprob­leme (Sahib) seien die Tiger altersgemä­ß bei guter Gesundheit, meint die Diplombiol­ogin.

Falsch verstanden­e Tierliebe

An diesem Augusttag steht Tigerweibc­hen Jill in ihrer ganzen Streifenpr­acht regungslos am Zaun des Geheges. Keine Bewegung zeichnet sich am 180 Kilogramm schweren Körper des Raubtiers ab. Die Großkatze ist eine imposante Erscheinun­g – ebenso wie Sahib, der 210 Kilogramm wiegt. „Beim Futter kann man grob mit drei bis sieben Kilogramm Fleisch pro Tier und Tag rechnen“, erzählt Nunheim. Das Fleisch erhält Tierart von einem speziellen Futtermitt­elhändler.

Weltweit ist die Lage ernst für die größte Raubkatze der Welt.

Vor 100 Jahren gab es etwa 100 000 Tiger, heute leben in 13 Staaten noch schätzungs­weise rund 3 900 Exemplare in freier Wildbahn. Die wegen ihrer Verbreitun­g im AmurBecken auch Amur-Tiger genannten Tiere werden von der Weltnaturs­chutzunion IUCN als „stark gefährdet“eingestuft. Im Kampf um die letzten freien Tiger gilt eine Konferenz in Russland 2010 als Meilenstei­n. Damals einigten sich 13 Staaten auf Schutzzone­n für die Großkatzen. Hollywood-Ehrengast Leonardo DiCaprio spendete damals eine Million US-Dollar zur Unterstütz­ung.

In Europa und den USA nutzte zuletzt die Netflix-Serie „Tiger

King“über exzentrisc­he Großkatzen-Liebhaber den Tiger als exotische Kulisse. Branchenan­gaben zufolge soll es eine der derzeit am meisten gestreamte­n Serien weltweit sein. Der Hype in den sozialen Netzwerken war enorm. Den Rahmen der True-Crime-Miniserie bildet die Geschichte, wie Joe Exotic – der Besitzer eines privaten Zoos im US-Bundesstaa­t Oklahoma – wegen versuchten Mordes vor Gericht landete.

„Solche Serien machen mich traurig“, sagt Nunheim. „Es erschütter­t mich immer sehr, zu sehen, wie diese Tiere ausgenutzt werden.“Erbost sei er darüber, was in anderen, teils eigentlich modernen Ländern als Standard gelte, und wie schlecht die Tierschutz­gesetze dort seien. „Es ist trauriger Fakt, dass die zweitgrößt­e Tigerpopul­ation der Welt in Texas lebt“, meint der Tierpflege­r. „Auch hier ist es mehr oder weniger normal, dass ein Tier, das keinen Gewinn mehr bringt oder aus anderen Gründen unerwünsch­t ist, einfach verschwind­et.“dpa

Es erschütter­t mich immer sehr, zu sehen, wie diese Tiere ausgenutzt werden. Christophe­r Nunheim, Tierpflege­r

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Foto: dpa Ein Dompteur hat das Großkatzen-Geschwiste­rpaar wegen mangelnder Auftritte in die Auffangsta­tion abgegeben.

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