Die verlorene Unschuld
Jahre, ja Jahrzehnte bin ich mit dem Kabinenboot auf den Flüssen und Kanälen der Bretagne unterwegs gewesen. Anfangs mit den Töchtern und ihren Freundinnen und Freunden, später mit den alten Schulfreunden und dann wieder mit Leo,
Max und Ferdinand, den Enkeln, die es immerhin geschafft haben, von der Brücke aus den 15-Tonnen-Kahn in die Schleusen zu bugsieren. Im vergangenen Jahr schafften wir es gar an die bretonische Küste. Von Concarneau aus entlang mächtiger Klippen, an denen sich der Atlantik bricht. Es wäre verwegen, die atemberaubenden Landschaften unter ihrem besonderen Licht mit dem Charterboot zu besuchen. So nutzten wir die Fähren, die das Festland mit den einzelnen Inseln verbinden, und blieben dort ein paar Tage, bevor es uns weiterzog.
Karibischen Verhältnissen begegneten wir auf den GlénanInseln: türkisfarbenes Meer und endlos weite Puderzucker-Strände. Zu den Juwelen an der Perlenkette der Eilande gehört die Belleîle-en-Mer, „die schöne Insel im Meer“: grandiose Landschaften im milden Klima des Golfstromes. Man pendelt mit der Autofähre zwischen Quibéron auf dem Festland und Le Palais, der InselHauptstadt.
Weil es ein gutes Jahr war, spendiert der Großvater ein paar Tage Luxus pur im Hotel, mit Blick auf die Bucht und den endlosen Horizont. Am Abend flanieren wir so lange auf der Terrasse hin und her, bis endlich das Buffet mit den Meeresfrüchten eröffnet wird: Austern und „bulots“, dazu ein „Entre-deux-Mers“und ein flambiertes Dessert. Es geht aber auch eleganter. Service an runden Tischen umsorgt von aufmerksamen Menschen, die dir Gutes tun wollen. Gegen Mitternacht weht eine späte Brise vom Atlantik herüber.
Wie schnell sich das Leben verändert, entnehmen wir einem Telefonat mit Freunden, denen wir den Aufenthalt dort für die Sommerferien empfohlen hatten. Inzwischen gleicht das Hotel einer Quarantäne-Station. Wie überall auf der Welt laufen die Gäste und die Service-Mitarbeiter dort mit Masken vor dem Gesicht herum. So bald werden wir uns wohl auch in der Zukunft nicht wiedersehen. Die Menschen in der Bretagne und wir – die Besucher – haben auf gewisse Weise ihre Unschuld verloren.
Hafenansicht von Le Palais in der Bretagne.