Europäischer Sündenfall
Dass auch zehn Tage nach dem Brand im Flüchtlingslager von Moria noch Tausende der einstigen Bewohner – darunter viele Familien mit Kindern – auf der Straße leben müssen, ohne Dach über dem Kopf und ohne gesicherte Wasser- und Nahrungsmittelversorgung, ist ein Armutszeugnis. Humanitäre Soforthilfe sieht anders aus.
Ja, es stimmt, viele Flüchtlinge weigern sich, in die neue Zeltstadt umzusiedeln. Es stimmt auch, dass es sich bei der Katastrophe um Brandstiftung handelte. Im Vordergrund steht aber nicht die Frage nach dem Was, sondern die Frage nach dem Warum. Warum haben die jugendlichen Migranten das Lager abgefackelt? Warum wollen die Menschen nicht in das neue Camp umsiedeln? Die Antwort ist so simpel wie desillusionierend: Aus purer Verzweiflung. Weil sie keine Perspektive mehr sehen, weil sie nach Monaten, vielleicht gar Jahren, die sie unter unmenschlichen Bedingungen in dem überfüllten Lager ausharren mussten, keine Hoffnung mehr haben.
Dass nun auf politischer Ebene wie auf dem Basar darum gefeilscht wird, ob und wer wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll, kann oder müsste, ist entwürdigend. Die Betroffenen auf Lesbos können nicht warten, bis die EU-Mitgliedstaaten endlich ihren Streit beigelegt und sich auf konkrete Zahlen verständigt haben. Sie brauchen Hilfe, jetzt, sofort. Die europäischen Länder müssen sich daher endlich solidarisch zeigen und die Migranten aufnehmen. Alles andere wäre unmenschlich.
Unmenschlich war es auch, dass die Staatengemeinschaft dem Elend so lange tatenlos zugeschaut hat. Moria ist eine Katastrophe mit langer Vorankündigung. Warnungen gab es mehr als genug. Passiert ist nichts. In der Nacht vom 8. auf den 9. September ist deshalb weit mehr in Rauch aufgegangen als die Zelte und die wenigen Habseligkeiten der 12 000 Migranten. Die gesamte Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union liegt seither unwiederbringlich in
Schutt und Asche.
Kommende Woche will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen endlich ein europäisches Migrationskonzept vorlegen. Das Vorhaben kommt der Quadratur des Kreises gleich. Details gibt es noch nicht. Doch vieles deutet darauf hin, dass die zunehmende Zahl der Länder, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, endlich in die Pflicht genommen werden, dass sie für ihre unsolidarische Verweigerungshaltung auf welche Art auch immer Verantwortung übernehmen müssen. Ein solcher Ansatz macht zwar Sinn, doch er löst das eigentlich Problem nicht. Wenn sich die Verweigerer freikaufen können, liegt die Last weiterhin auf den Schultern der wenigen Länder, die auch in der Vergangenheit viele Flüchtlinge aufgenommen haben.
Es besteht wenig Hoffnung, dass es von der Leyen gelingen wird, den gordischen Knoten zu durchschlagen. Wenn aber über kurz oder lang keine dauerhafte europäische Lösung in der Migrationsfrage gefunden wird, müsste die Union zumindest den Anstand besitzen und den Friedensnobelpreis, den sie 2012 für ihren Kampf für Frieden und Versöhnung, für Demokratie und den Erhalt der Menschenrechte erhalten hat, zurückzugeben.
Moria ist eine Katastrophe mit langer Vorankündigung.
Kontakt: danielle.schumacher@wort.lu