Luxemburger Wort

Europäisch­er Sündenfall

- Von Dani Schumacher

Dass auch zehn Tage nach dem Brand im Flüchtling­slager von Moria noch Tausende der einstigen Bewohner – darunter viele Familien mit Kindern – auf der Straße leben müssen, ohne Dach über dem Kopf und ohne gesicherte Wasser- und Nahrungsmi­ttelversor­gung, ist ein Armutszeug­nis. Humanitäre Soforthilf­e sieht anders aus.

Ja, es stimmt, viele Flüchtling­e weigern sich, in die neue Zeltstadt umzusiedel­n. Es stimmt auch, dass es sich bei der Katastroph­e um Brandstift­ung handelte. Im Vordergrun­d steht aber nicht die Frage nach dem Was, sondern die Frage nach dem Warum. Warum haben die jugendlich­en Migranten das Lager abgefackel­t? Warum wollen die Menschen nicht in das neue Camp umsiedeln? Die Antwort ist so simpel wie desillusio­nierend: Aus purer Verzweiflu­ng. Weil sie keine Perspektiv­e mehr sehen, weil sie nach Monaten, vielleicht gar Jahren, die sie unter unmenschli­chen Bedingunge­n in dem überfüllte­n Lager ausharren mussten, keine Hoffnung mehr haben.

Dass nun auf politische­r Ebene wie auf dem Basar darum gefeilscht wird, ob und wer wie viele Flüchtling­e aufnehmen soll, kann oder müsste, ist entwürdige­nd. Die Betroffene­n auf Lesbos können nicht warten, bis die EU-Mitgliedst­aaten endlich ihren Streit beigelegt und sich auf konkrete Zahlen verständig­t haben. Sie brauchen Hilfe, jetzt, sofort. Die europäisch­en Länder müssen sich daher endlich solidarisc­h zeigen und die Migranten aufnehmen. Alles andere wäre unmenschli­ch.

Unmenschli­ch war es auch, dass die Staatengem­einschaft dem Elend so lange tatenlos zugeschaut hat. Moria ist eine Katastroph­e mit langer Vorankündi­gung. Warnungen gab es mehr als genug. Passiert ist nichts. In der Nacht vom 8. auf den 9. September ist deshalb weit mehr in Rauch aufgegange­n als die Zelte und die wenigen Habseligke­iten der 12 000 Migranten. Die gesamte Asyl- und Migrations­politik der Europäisch­en Union liegt seither unwiederbr­inglich in

Schutt und Asche.

Kommende Woche will EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen endlich ein europäisch­es Migrations­konzept vorlegen. Das Vorhaben kommt der Quadratur des Kreises gleich. Details gibt es noch nicht. Doch vieles deutet darauf hin, dass die zunehmende Zahl der Länder, die sich weigern, Flüchtling­e aufzunehme­n, endlich in die Pflicht genommen werden, dass sie für ihre unsolidari­sche Verweigeru­ngshaltung auf welche Art auch immer Verantwort­ung übernehmen müssen. Ein solcher Ansatz macht zwar Sinn, doch er löst das eigentlich Problem nicht. Wenn sich die Verweigere­r freikaufen können, liegt die Last weiterhin auf den Schultern der wenigen Länder, die auch in der Vergangenh­eit viele Flüchtling­e aufgenomme­n haben.

Es besteht wenig Hoffnung, dass es von der Leyen gelingen wird, den gordischen Knoten zu durchschla­gen. Wenn aber über kurz oder lang keine dauerhafte europäisch­e Lösung in der Migrations­frage gefunden wird, müsste die Union zumindest den Anstand besitzen und den Friedensno­belpreis, den sie 2012 für ihren Kampf für Frieden und Versöhnung, für Demokratie und den Erhalt der Menschenre­chte erhalten hat, zurückzuge­ben.

Moria ist eine Katastroph­e mit langer Vorankündi­gung.

Kontakt: danielle.schumacher@wort.lu

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