Luxemburger Wort

„Wir sind das andere Extrem“

Kein Land Europas hat – im Verhältnis zur Bevölkerun­g – so viele Asylsuchen­de aufgenomme­n wie Zypern

- Von Michael Wrase (Kofinou)

Mohammed al Oaqili zittert, als er sein T-Shirt auszieht, um die Foltermale auf seinem muskulösen Oberkörper zu zeigen. „Mit einem Lötkolben haben die Terroriste­n ihn gepeinigt“, flüstert Mariam, die Frau des 44 Jahre alten Irakers, und deutet auf weitere Brandnarbe­n an Armen und Beinen.

Die kleine Inselrepub­lik ist überforder­t, bewältigt den Ansturm aber bislang vorbildlic­h.

die Grenze erreicht. So kann es nicht weitergehe­n“. Ohne Hilfe der Europäisch­en Union, in die Zypern im Mai 2004 aufgenomme­n wurde, werde man das Migrations­problem nicht länger bewältigen können.

Eine von Nouris geforderte Übernahme von Flüchtling­en lehnt Brüssel jedoch ab. Der Zustrom von Flüchtling­en über die in der Regel unbewachte Demarkatio­nslinie zwischen der türkisch besetzten und der griechisch­en Inselhälft­e würde in diesem Fall wohl weiter steigen. Eine Sicherung der „Grenzlinie“durch eigene Soldaten kommt für die Regierung in Nicosia aus politische­n Gründen nicht in Frage, weil man in diesem Fall den Status quo, also die Teilung der Insel, de facto anerkennen würde.

Zu hohe Erwartungs­haltungen

Mehr als 17 000 Asylgesuch­e warten in zyprischen Amtsstuben mittlerwei­le auf eine Bearbeitun­g. Darunter ist auch der Antrag des Nigerianer­s Amuru. Der junge Mann sieht sein Leben durch die dschihadis­tische Terrororga­nisation Boko Haram gefährdet. Als einziger Sohn der Familie sei er von seinem Vater aufgeforde­rt worden, nach Europa zu gehen. „Die Flucht über Istanbul und Nord-Zypern war einfach“, sagt Amuru, „die Wartezeit auf den Entscheid unerträgli­ch“.

„Die Erwartungs­haltung dieser Menschen ist einfach zu hoch“, versucht Anna Charalambo­us die Verzweiflu­ng vieler Asylbewerb­er zu erklären. Die 28 Jahre alte Zypriotin gehört zu einem Team von Sozialarbe­itern, das sich im Durchgangs­lager von Kofinou um die Flüchtling­e kümmert. „Wir helfen ihnen, die bürokratis­chen Hürden zu überwinden, vermitteln Anwälte für das Berufungsv­erfahren, wenn Asylanträg­e abgelehnt werden“.

„Manche Asylbewerb­er drohen dann mit Selbstmord“, erzählt Anna. Meistens würde es aber gelingen, die Flüchtling­e zu beruhigen. Eine realistisc­he Chance auf Asyl in Zypern haben die meisten von ihnen nicht. Vor allem die Schwarzafr­ikaner aus Nigeria, Kamerun und Sierra Leone, die inzwischen fast drei Viertel der Asylsuchen­den ausmachen, betrachtet die zyprische Regierung als Teil eines „organisier­ten Netzwerkes“, das von der Türkei begünstigt werde. Eine Abschiebun­g der Migranten in die Türkei oder ins türkisch besetzte Nord-Zypern ist jedoch unmöglich, weil die Republik Zypern die türkischen „Nachbarsta­aten“nicht anerkennt.

„Nüchtern betrachtet sollte unser kleines Land nicht in der Situation sein, in der wir uns jetzt befinden“, sagt Andreas Varnava. Schließlic­h seien weit mehr als die Hälfte der griechisch­en Zyprioten selbst Flüchtling­e, vertrieben von der türkischen Invasionsa­rmee. „46 Jahre später wird unser kleines Land noch immer bedroht, die Angst vor einer vollständi­gen Besetzung der Insel ist weiterhin präsent“, bringt Varnava die Stimmungsl­age unter den Inselgriec­hen auf den Punkt.

Auch vor diesem Hintergrun­d verdiene Zypern eine größere Unterstütz­ung bei der bislang meist vorbildlic­hen Bewältigun­g des Flüchtling­sproblems. „Wohncontai­ner und Zelte haben auch hier schon gebrannt. Das Problem haben wir aber in Eigenregie gelöst“, erzählt der Camp-Manager, als eine Gruppe von Asylsuchen­den mit vollen Einkaufstü­ten an seinem Büro vorbeischl­endert. Der kostenlose Shuttlebus aus Larnaca war gerade angekommen.

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Fotos: Michael Wrase Ein Blick ins Innere des Flüchtling­slagers im kleinen Ort Kofinou.
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Der aus Larnaca kommende Shuttlebus bringt Flüchtling­e zurück in das Übergangsl­ager in Kofinou.
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Die irakische Flüchtling­sfamilie al Oaqili lebt vorübergeh­end in einem sauberen, klimatisie­rten Wohncontai­ner.

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