„Dummheit oder Arroganz“
CDU-Chef-Bewerber Friedrich Merz setzt Homo- und Pädosexualität in einen Zusammenhang
Ulf Poschardt hat gern eine Meinung. Und ebenso gerne schreibt er sie auf. Es ist sein Job – als Chefredakteur der Tageszeitung „Welt“, der „Bild“-Schwester fürs etwas anspruchsvollere Publikum. Eher selten führt Poschardt Interviews; er gibt lieber selbst Antworten. Umso auffallender ist sein Text am Dienstag, sechs Fragen an Friedrich Merz. Es geht los mit: „Herr Merz, haben Sie ein Problem mit Schwulen?“
Auch Friedrich Merz hat gern eine Meinung; er wird das noch sagen, als Antwort auf Frage vier. Er müsste es nicht; Deutschland weiß das längst. Und Merz wiederum weiß, dass ihn genau das interessant macht für einen Teil des politischen Publikums. Und attraktiv für jenen Teil seiner Partei, der CDU, der ihn gern als Vorsitzenden hätte und als Kanzlerkandidaten und ab Herbst 2021 als Kanzler. Wegen der Pandemie zieht sich die Wahl des Nachfolgers von Annegret Kramp-Karrenbauer schon seit dem Spätwinter hin; das ist nicht günstig für Merz, erst recht, weil die erklärte und unerklärte Konkurrenz sämtlich Würden oder wenigstens Ämter hat, die sie in der Öffentlichkeit halten und im Gespräch.
Will Merz Aufmerksamkeit, muss er sie selbst erzeugen. Er weiß, wie das geht. Am Sonntagabend beantwortet er im „Bild“-TVTalk die Frage, ob er Vorbehalte gegen einen schwulen Bundeskanzler hätte, mit einem kurzen „Nein“. Zur Nachfrage, ob das für ihn völlig normal wäre, aber holt Merz aus, die sexuelle Orientierung gehe „die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft – an der Stelle ist für mich allerdings eine absolute Grenze erreicht…“.
Spahn distanziert sich von Merz
Vier Tage zuvor hat die amtierende CDU-Chefin und Bundesverteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer öffentlich für die jahrzehntelange Diskriminierung homosexueller Soldaten in der Bundeswehr um Entschuldigung gebeten – und sie „beschämend und unerhört“genannt. Und nun bringt Merz Homound Pädosexualität in einen Zusammenhang.
Die deutsche Presse muss natürlich darauf Jens Spahn ansprechen – den Running Mate, mindestens,
CDU-Mann Friedrich steht in der Kritik.
von Merz-Konkurrent Armin Laschet. Spahn ist mit einem Mann verheiratet – und wird umgehend gefragt, was Merz’ Antwort auslöse bei ihm. „Naja“, antwortet Spahn, „wenn die erste Assoziation bei Homosexualität Gesetzesfragen oder Pädophilie ist, dann müssen Sie eher Fragen an Friedrich Merz richten, würde ich sagen.“
Das ist distanziert und geschickt, denn das Aufregen überlässt Spahn anderen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Kevin Kühnert, bekennend homosexuell, ätzt auch prompt: „So laviert einer, der nicht kaschieren kann, dass er mit der Normalisierung des Umgangs mit Homosexualität eigentlich nichts anfangen kann.“Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil spottet: „Friedrich möchte aus dem letzten Jahrhundert abgeholt werden.“
Einerseits muss das Merz nicht grämen. Denn nicht wenige seiner Fans sehnen sich ja genau dahin zurück, in eine Welt ohne sichtbare oder gar gleichberechtigte Homosexualität und ähnliche Zumutungen. Andererseits braucht er, will er sein politisches Ziel im dritten Anlauf endlich erreichen, beim Parteitag am 4. Dezember jede Stimme.
Und also twittert Merz’ Sprecher, „bösartig und schlicht falsch“sei die Behauptung, Merz habe schwul und pädophil gleichgesetzt.
Kommentar-Rubriken explodieren Unterdessen explodieren im Internet die Kommentar-Rubriken. Bei der liberalen Wochenzeitung „Die Zeit“ist der Tenor, Merz passe als
Politiker nicht mehr in die Zeit. Bei der konservativen „Welt“hingegen steht viel von vorsätzlicher Diskreditierung und dass Merz „es sicher nicht so gemeint“habe.
Über all dem geht fast unter, dass er im selben Talk über Lehrer, Künstler und andere, die coronabedingt nicht berufstätig sein können wie gewohnt, gesagt hat: „Es gewöhnen sich im Augenblick relativ viele Menschen daran, ein Leben ohne Arbeit zu führen.“Die ZDFSatiresendung „heute-show“kommentiert: „Musiker, Tontechniker und Veranstalter bauen gerade ihre Soundanlagen wieder auf, damit man sie lauter lachen hört.“
Ulf Poschardt indes stellt Friedrich Merz Frage 5: „Ärgert Sie das, wenn man Ihnen Ihre Liberalität abspricht?“. Weil ihm die Toleranz damit ja schon attestiert ist, kann Merz großzügig kundtun, dass ihn derlei „schon lange nicht mehr“berührt.
Möglicherweise geht es so auch den Funktionären vom FC Bayern, die am Samstag dicht an dicht im Stadion saßen und auf alle Abstandsregeln pfiffen und am Montag dafür via „Bild“von Friedrich Merz heruntergeputzt werden. „Dummheit oder Arroganz“hat er erkannt. In München.