Britische Atomkraft schwächelt
Bau des Atomkraftwerks Hinkley Point C geht voran – Aber für die Nuklearindustrie in Großbritannien beginnen unsichere Zeiten
Die Arbeit auf der größten Baustelle Großbritanniens kann ungehindert weitergehen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wies eine Klage Österreichs gegen Staatshilfen für das Atomkraftwerk Hinkley Point C ab. Die Europäische Kommission hatte 2014 die britischen Beihilfen für das Kraftwerk durchgewinkt; im folgenden Jahr legte Österreich eine Klage ein, weil es sich dabei um unzulässige staatliche Subventionierung handle. Nachdem der EuGH die Klage 2018 abgewiesen hatte, ging Österreich in Berufung – aber am Dienstag bestätigte der Gerichtshof, dass die Staatshilfen mit dem Binnenmarkt vereinbar sind. Luxemburg, wie Österreich überzeugter Kernkraftgegner, hatte die Alpenrepublik in dieser Angelegenheit unterstützt.
Hinkley Point C, in der Grafschaft Somerset gelegen, befindet sich seit 2016 im Bau – es ist das erste Atomkraftwerk seit den 1990Jahren, das in Großbritannien errichtet wird. Rund 4 500 Arbeiter sind auf der Baustelle beschäftigt. Wenn die Anlage in Betrieb ist, soll sie genügend Energie für sechs Millionen Haushalte generieren. Wie so oft bei gigantischen Projekten wird es am Ende deutlich teurer als gedacht – die Kosten werden derzeit auf rund 22 Milliarden Pfund geschätzt. Auch hinkt es hinter dem Zeitplan her und wird voraussichtlich erst nach 2025 ans Netz gehen. Dennoch ist Hinkley Point ein seltener Erfolg für die britische Nuklearindustrie: Die Branche blickt einer unsicheren Zukunft entgegen.
In den vergangenen zehn Jahren sind etliche veraltete Kernkraftwerke geschlossen worden, innerhalb der kommenden 15 Jahre werden fast alle verbleibenden Anlagen vom Netz gehen. Als Ersatz sollte eigentlich die nächste Generation von Kernkraftwerken errichtet werden: Vor rund zehn
Jahren fasste die Regierung acht fabrikneue Kraftwerke ins Auge und identifizierte entsprechende Standorte. Aber von diesen acht ist heute einzig Hinkley Point C im Bau. Manche der anderen Projekte sind über Bord geworfen worden, andere liegen auf Eis und suchen nach Investoren.
Für eine nachhaltige Energiepolitik Vertreter der Nuklearindustrie beobachten die Entwicklung mit Sorge. „Die Regierung muss sich entscheiden, ob sie Nuklearstrom will oder nicht“, sagte Stuart Crooks, Direktor von Hinkley Point C, kürzlich in einem Zeitungsinterview. Das wichtigste Argument lautet, dass eine nachhaltige Energiepolitik ohne Atomstrom nicht funktionieren werde.
Großbritannien hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 den Ausstoß von Treibhausgasen unter dem Strich auf Null zu senken. Die Nuklearindustrie besteht darauf, dass dies nur erreicht werden kann, wenn neue Atomkraftwerke gebaut werden. Die Regierung in London stimmt im Prinzip zu: „Nuklearkraft wird in der kohlenstoffarmen Zukunft Großbritanniens eine wichtige Rolle spielen“, ließ sie vor einigen Monaten verlauten. Im letzten Jahr generierten Atomkraftwerke rund 17 Prozent der Elektrizität in Großbritannien; 41 Prozent des Stroms wurden mit Erdgas produziert; 37 Prozent durch erneuerbare Energien.
Die wachsende Bedeutung grüner Energie stellt den bedeutendsten Wandel in der britischen Energiewirtschaft dar – 2010 betrug ihr Anteil gerade mal sieben Prozent. Im dritten Quartal 2019 generierten Windfarmen, Solaranlagen, Biomasse- und Wasserkraftanlagen zusammengerechnet erstmals mehr Strom als Kohle, Öl und Gas. Um das Klimaziel zu erreichen, setzt die britische Regierung auf den Ausbau dieser nachhaltigen Energiequellen. Im Frühjahr hat sie ihre langjährige Blockade der Subventionierung
von Windfarmen auf dem Land aufgegeben. Letztes Jahr wurden im Land 269 Bauanträge für Wind-, Solar- oder Bioenergie-Anlagen eingereicht, fast doppelt so viele wie noch vor drei Jahren.
Insbesondere Offshore-Windenergie hat großes Potenzial: Laut dem Branchenverband Renewable UK generieren die bestehenden 37 Projekte 8,5 Gigawatt an Elektrizität – genug für 7,5 Millionen Haushalte; weitere 3,8 Gigawatt sind im Bau, und fast elf Gigawatt haben die Baugenehmigung erhalten. Bis 2030 will Großbritannien ein Drittel der Energieversorgung durch Offshore-Wind sichern.
Wenn die Förderung von nachhaltiger Energie weiterhin Fortschritte macht – und die Finanzierungsschwierigkeiten bei Atomkraft-Großprojekten bestehen bleiben –, ist denkbar, dass Hinkley Point C auf absehbare Zeit das einzige neue Kernkraftwerk auf britischem Boden bleibt.