Luxemburger Wort

„Belarus ist heute dort, wo wir 1970 waren“

Der ehemalige Solidarnos­c-Anführer Lech Walesa rät der Opposition in Minsk zur Geduld

- Interview: Gabriele Lesser (Danzig)

„Die Opposition­sbewegung in Belarus agiert zur Zeit sehr spontan, ohne eine schlagkräf­tige Struktur“, sagt Lech Walesa, ehemaliger Anführer der Gewerkscha­ftsbewegun­g Solidarnos­c, zu den Protesten in seinem Nachbarlan­d Belarus – und zieht historisch­e Vergleiche.

Lech Walesa, wenn Sie die aktuellen Proteste in Belarus mit denen in Polen vor 40 Jahren vergleiche­n, sehen Sie Unterschie­de oder eher Ähnlichkei­ten?

Belarus ist zurzeit noch dort, wo wir in den 70er-Jahren waren. Damals haben wir den großen Streik in der Danziger Werft verloren, weil uns nicht klar war, was wir eigentlich wollten. Die Erfahrung lehrte uns, dass wir uns auf die Revolution sehr gut vorbereite­n mussten. Wir brauchten vertrauens­würdige Fachleute an wichtigen Schaltstel­len im Staat, ein realistisc­hes Programm und Durchhalte­vermögen. Die Opposition­sbewegung in Belarus agiert zurzeit sehr spontan, ohne eine schlagkräf­tige Struktur und ohne ein zumindest mittelfris­tiges Programm.

Denken Sie bei der Struktur an eine freie Gewerkscha­ft – so wie die Solidarnos­c 1980?

Nicht unbedingt. Die Situation in Belarus ist eine andere als bei uns damals. Dort wurden die Wahlen so dreist gefälscht, dass „die Straße“protestier­t und Freiheit und Demokratie fordert. Bei uns fing alles mit Streiks gegen die schlechten Arbeitsbed­ingungen an. Eine Gewerkscha­ft als Struktur der Opposition bot sich also an. Die Belarussen müssen eine eigene Struktur finden.

Hat Belarus überhaupt eine Chance, sich aus den Armen Russlands zu befreien?

Ich bin ein Praktiker, Politiker und Revolution­är, kein Theoretike­r. Es ist doch so: Russland wird sich irgendwann mit dem Rest Europas arrangiere­n müssen. Die Zeit der Nationalst­aaterei und der Kriege ist vorbei. Wir stehen heute vor ganz anderen Herausford­erungen als noch vor einem Jahrhunder­t. Die globalen Probleme löst kein Staat mehr allein.

Die Ukraine, die ihren Freiheitsk­ampf mehr oder weniger in der gleichen Zeit begann wie Polen, ist heute weder in der EU noch in der NATO. Hat sie ihre historisch­e Chance verpasst?

Als ich Präsident Polens war, verfolgte ich die Konzeption eines gemeinsame­n Beitritts zu NATO und EU – also erst Polen und die anderen mitteleuro­päischen Staaten, dann die baltischen Republiken und schließlic­h die Ukraine und auch Belarus. Doch dann verlor ich die Wahlen und hatte keine zweite Amtszeit mehr. Damals zerfiel die Sowjetunio­n. Es hätte also klappen können. Ich hatte bereits alles in die Wege geleitet, ohne dies aber an die große Glocke zu hängen. Die Ukraine hat nicht ihre historisch­e Chance verpasst, sondern geht einen anderen Weg. Wenn die EU der Ukraine

Der Friedensno­belpreistr­äger Lech Walesa.

und Belarus Strom, Gas und Öl liefern könnte, wären die beiden Länder weniger abhängig von Russland und hätten einen größeren Handlungss­pielraum. Aber dazu ist die EU derzeit nicht in der Lage.

Aber es ist Ihnen noch gelungen, den Abzug der sowjetisch­en Soldaten aus Polen zu verhandeln. Wie kam es dazu?

Vergessen Sie nicht die Berliner Mauer! Die wäre ohne unsere Vorarbeit nicht gefallen. Die Sowjetunio­n war damals sehr

schwach und konnte mit den kapitalist­ischen Ländern nicht mehr konkurrier­en. Zugleich hatten bereits viele kluge Köpfe – polnische, russische, litauische – an Eliteunive­rsitäten in den USA und auch in Westeuropa studiert. Sie erkannten, dass das kommunisti­sche Wirtschaft­ssystem nirgends funktionie­rte, und so waren auch die sowjetisch­en Politiker nicht mehr bereit, das bisherige System zu verteidige­n. So erreichte ich in Verhandlun­gen, dass die Sowjetsold­aten vollkommen friedlich aus Polen abzogen.

Und heute? Haben Sie einen Ratschlag für die Opposition­ellen in Belarus?

Von außen einen Rat zu geben, ist sehr schwer. Man muss vor Ort sein, die Situation mit Herz und Hirn erfassen, mal vorpresche­n, mal zurückweic­hen und immer im Dialog mit der anderen Seite bleiben. Ich werde mich hüten, einen konkreten Rat zu geben. Aber etwas gegen Russland zu unternehme­n, empfiehlt sich zur Zeit wohl nicht. Das würde Putin nicht zulassen. Kleinere politische Projekte hingegen könnte die Opposition problemlos auf den Weg bringen und dabei wertvolle Erfahrunge­n sammeln.

Mit oder ohne die Europäisch­e Union?

Die EU ist heute sehr schwach. Es gibt zu viele antagonist­ische Kräfte innerhalb der EU. Es wäre gut, wenn die Deutschen, Franzosen und Italiener entweder die EU von innen reformiert­en oder aber – nachdem sie zuvor von Großbritan­nien, Polen, Ungarn & Konsorten zerstört wurde – von neuem gründeten. Wie zuvor sollte jeder beitreten können, also auch diejenigen Staaten, die vorher unbedingt raus wollten.

Allerdings müssten sie einen ganz klaren Rechte- und Pflichten-Katalog unterschre­iben, dessen Einhaltung dann auch streng kontrollie­rt werden sollte. Die Farce rund um die Verletzung der Rechtsstaa­tlichkeit in Polen und Ungarn und deren Ahndung durch die EU ist doch einfach nur peinlich. Die Deutschen sollten endlich zu ihrer Verantwort­ung stehen und aus dem politische­n Zwerg EU einen Riesen machen, der in der Weltpoliti­k ein Wort mitzureden hat. In ihrer jetzigen Verfassung kann die EU weder Belarus noch der Ukraine helfen, fürchte ich.

Sie fordern eine Führungsro­lle für Deutschlan­d in der EU trotz des Zweiten Weltkriegs?

Wir sind in einer anderen Epoche heute, führen keine Kriege mehr, sondern sind Partner, die Vertrauen zueinander haben. Wissen Sie, ich habe auch meinen Vater

im Krieg verloren, war als junger Mann voller Zorn gegenüber den Deutschen, bis mir klar wurde, dass die Zeiten sich geändert haben. Wir Polen haben einen hohen Preis bezahlt, müssen aber in die Zukunft schauen. Globale Probleme lösen wir nicht alleine. Kein Staat tut das. Wir brauchen also eine starke EU. Die Deutschen sollten sich endlich an die Arbeit machen.

Sie tragen seit ein, zwei Jahren in der Öffentlich­keit ein T-Shirt mit der Aufschrift „Verfassung“! Steht es so schlecht um Polens Rechtssyst­em?

Nicht nur in Polen, sondern weltweit fallen immer mehr Menschen auf Populisten herein. Sogar in den USA. Das Problem ist: die Analysen der Populisten sind oft richtig, aber ihre Lösungen sind fatal. Statt es besser zu machen als ihre Vorgänger, zerstören sie das bisherige Rechtssyst­em und die Demokratie. Als ich Präsident war, haben mich die

Die Ukraine hat nicht ihre historisch­e Chance verpasst, sondern geht einen anderen Weg.

Sie können es nicht aushalten, dass ich als einfacher Elektriker etwas geschafft habe, während sie als studierte Leute Statisten geblieben sind.

Urteile mancher Richter auch sehr geärgert, aber anders als die derzeit regierende Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) habe ich nie versucht, Polens Gerichte zu zerstören. Ohne Respekt vor der Verfassung, der Dreiteilun­g der Macht und der freien Presse degenerier­t so jedes populistis­ch regierte Land zur Diktatur. In Polen und überall.

Die aktuell regierende PiS versucht, Sie aus der Geschichte Polens zu eliminiere­n und Sie entweder totzuschwe­igen oder sogar durch eine andere Person zu ersetzen. Schmerzt Sie das?

Ach, nein. Das zeigt doch nur, dass ich meinen Platz in der Geschichte habe. Ich empfinde diesen zum Teil hysterisch­en Kampf gegen mich als eine Art Wertschätz­ung. Sie können es nicht aushalten, dass ich als einfacher Elektriker etwas geschafft habe, während sie als studierte Leute Statisten geblieben sind. Da hängen sie mir an, ein kommunisti­scher Agent gewesen zu sein. Haha, was ein Witz!

Wie sieht Ihre Bilanz aus – 40 Jahre nach der Solidarnos­c-Registrier­ung! Worüber freuen Sie sich bis heute?

In der Solidarnos­c-Revolution ging es nicht um mich, sondern um die Freiheit und Souveränit­ät Polens, auch um die Wiedervere­inigung Deutschlan­ds. Das ist mir gelungen. Und das freut mich sehr.

 ?? Fotos: AFP/dpa ?? Sicherheit­skräfte haben bei einer Demonstrat­ion am vergangene­n Sonntag in Minsk die bekannte opposition­elle Aktivistin Nina Baginskaya (73) festgenomm­en.
Fotos: AFP/dpa Sicherheit­skräfte haben bei einer Demonstrat­ion am vergangene­n Sonntag in Minsk die bekannte opposition­elle Aktivistin Nina Baginskaya (73) festgenomm­en.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg