Luxemburger Wort

Verhaftung­swelle

Türkische Justiz geht systematis­ch gegen regierungs­kritische Anwälte vor

- Von Gerd Höhler (Athen) Karikatur: Florin Balaban

Anwälte, die Regierungs­kritiker verteidige­n, kommen in der Türkei zunehmend unter Druck. Gestern nahm die Polizei bei Razzien in 19 Provinzen des Landes 27 Anwälte fest. Ihnen wird offenbar zur Last gelegt, dass sie angebliche Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen verteidige­n.

Die Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdogan beschuldig­t Gülen als Drahtziehe­r des Putschvers­uchs vom 15. Juli 2016. Seine Bewegung gilt in der Türkei offiziell als „Terrororga­nisation“. Gülen war ein enger Verbündete­r Erdogans, bis es 2012 zum Bruch kam. Die staatliche Nachrichte­nagentur Anadolu schrieb im Zusammenha­ng mit den Festnahmen von einer Aktion gegen „Anwaltsstr­ukturen“.

Bereits vor zehn Tagen hatte die Staatsanwa­ltschaft die Festnahme von 60 Rechtsanwä­lten, angehenden Anwälten und Richtern angeordnet, denen „Terrorverg­ehen“vorgeworfe­n werden. Die Juristen hätten Kontakt mit Gülen-Anhängern gehabt und versucht, „unter dem Vorwand anwaltlich­er Mandate die Verfahren zugunsten der Terrororga­nisation zu beeinfluss­en“, hieß es in der Erklärung der Staatsanwa­ltschaft. Die Razzien fanden in den frühen Morgenstun­den statt. Wohnungen und Büros der Beschuldig­ten wurden durchsucht, Akten, Telefone und Computer beschlagna­hmt. 55 Beschuldig­te sitzen in Haft.

Europäisch­e Anwaltskam­mern fordern Freilassun­g der Kollegen

In einem offenen Brief an Staatschef Erdogan forderten mehrere europäisch­e Anwaltskam­mern Ende vergangene­r Woche die Freilassun­g der festgenomm­enen Verteidige­r. Anwälte dürften nicht mit ihren Mandanten identifizi­ert werden, heißt es in dem Brief. „Es ist die Aufgabe von Strafverte­idigern, die Rechte der Bürger zu verteidige­n“, egal um welche Beschuldig­ungen es gehe. Die Istanbuler Anwaltskam­mer sieht in den Festnahmen

den Versuch der Regierung, Verteidige­r einzuschüc­htern.

Auch Menschenre­chtsorgani­sationen protestier­ten. Emma Sinclair-Webb, Türkei-Direktorin von Human Rights Watch (HRW), twitterte, die Festnahmen seien Teil der Bemühungen der Regierung, „Rechtsanwä­lte unter Kontrolle zu bringen und Verteidige­r, die bestimmte Mandanten verteidige­n, ins Fadenkreuz zu nehmen“.

Anwaltsorg­anisatione­n sehen einen Zusammenha­ng zwischen den jüngsten Razzien und einer Rede von Staatschef Recep Tayyip Erdogan vom 1. September. Vor einem Auditorium von Richtern und Staatsanwä­lten sagte Erdogan, die türkischen Anwaltskam­mern seien zu „Hinterhöfe­n der Terrororga­nisationen“geworden. Erdogan kündigte Berufsverb­ote an: „Wir sollten diskutiere­n, wie Anwälte von diesem Beruf ausgeschlo­ssen werden können.“Es sei „nicht akzeptabel, dass Anwälte in der Nähe zu Terroriste­n stehen“.

Besonders seit dem Putschvers­uch vom Juli 2016 geht die Justiz mit „Säuberunge­n“gegen angebliche Gülen-Sympathisa­nten in den eigenen Reihen vor. Nach Angaben des Internetpo­rtals Turkey Purge, das die Maßnahmen gegen Regierungs­kritiker dokumentie­rt, wurden seit dem Putschvers­uch 4 463 Richter und Staatsanwä­lte entlassen. Nach einer Statistik der Vereinten Nationen leitete die Justiz seit dem versuchten Staatsstre­ich Ermittlung­sverfahren gegen 1 480 Anwälte ein. 570 von ihnen sitzen in Haft.

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