Mit der Angst im Nacken
Luxemburg hat kein Gesetz zum Schutz von Zeugen in Kriminalprozessen – und doch Handlungsspielraum
Luxemburg. Der Fall wird heute nach einer Unterbrechung über den Sommer vor der Kriminalkammer weiter verhandelt: Es geht um eine Messerstecherei in Esch/ Alzette, während die Welt beim Fußball-WM-Endspiel 2018 zwischen Frankreich und Kroatien mitfiebert. Einem jungen Mann wird bei einer Schlägerei ein Messer in den Rücken gestochen, weil er einem anderen jungen Mann in der Nacht zuvor bei einer anderen Auseinandersetzung die Brille vom Kopf geschlagen hatte. Darum geht es in der Strafsache. Doch im Prozess geht es um viel mehr: Es geht um Angst. Jene der Zeugen.
Niemand will hingesehen haben
Weit mehr als 100 vorrangig junge Menschen hat es an jenem sommerlichen Sonntagnachmittag des 15. Juli zu den Gaststätten an der Escher Rue de la Gare gezogen. Die Schlägerei zwischen mehreren Kontrahenten zieht kurz nach dem Anpfiff des WM-Finales, das auf großen Fernsehbildschirmen übertragen wird, auf der Straße alle Blicke auf sich. Und auch, dass plötzlich ein Mann, dem ein Messer im Rücken steckt, umhertorkelt, ist mit Sicherheit niemandem entgangen. Doch gesehen haben will niemand etwas.
Selbst das Opfer zeigt sich nicht wirklich an einer Aufklärung interessiert. Auf die Tat mit dem Messer folgten nämlich weitere gewaltsame Auseinandersetzungen. Bei einer wurde ihm in den Kopf geschossen. Er hat es überlebt. Seinen Lebenswandel verändert hat es offensichtlich nicht.
Gerade mal zwei Zeugen kann die Staatsanwaltschaft im Prozess Mitte Juli vor der hauptstädtischen Kriminalkammer aufbieten. Um es kurz zu machen: Einer der Zeugen widerruft alle seine vorangegangenen Aussagen und will von nichts mehr etwas wissen.
Der zweite Zeuge ist ein unscheinbarer junger Mann, der zur Tatzeit offenbar gerade seine Familie besucht hat. Mit 23 Jahren ist er der Alleinversorger seiner Mutter und seiner Geschwister. Bei der Polizei sagt er umfassend aus, was er gesehen hatte. Er spricht von einem Beteiligten mit nacktem Oberkörper mit kurzen Rastalocken, einer Bewegung, die einem Messerstich gleicht und von 90prozentiger Sicherheit, den Täter als den späteren Angeklagten identifizieren zu können.
Zwischenfall im Gerichtssaal
Im Gerichtssaal ist das auf einmal anders. Zuvor sitzt er mit dem anderen Zeugen alleine ohne Aufsicht im Flur des Gerichtsgebäudes. Ob man sich kennt oder ob und was hier geredet wurde, kann niemand wissen.
Als er als Zeuge in den Saal gerufen wird, blickt er mit gesenktem Kopf zum Angeklagten. Als er zum Zeugenpult schreitet, steht dem jungen Mann die Angst ins Gesicht geschrieben. Aus 90 Prozent werden 80. Aus einem Mann mit nacktem Oberkörper werden zwei. Als die vorsitzende Richterin die Widersprüche zu seinen vorherigen Aussagen anspricht, sackt er plötzlich zusammen, fällt zunächst mit dem Oberkörper auf das Zeugenpult, dann rückwärts und knallt mit voller Wucht mit dem Kopf gegen eine Holzbank. Bevor Sanitäter ihn ins Krankenhaus bringen, verliert er mehrfach das Bewusstsein. Prozessbeobachter sind sich einig: Die Ohnmacht ist nicht gestellt. Pure Angst hat ihn in die Knie gezwungen. Der Prozess wird unterbrochen.
Dabei braucht die Justiz Menschen, die aufrecht stehen und sagen, was sie gesehen haben. Auch wenn ihre Aussage alleine in den seltensten Fällen ausschlaggebend ist, tragen Zeugen doch entscheidend zur Wahrheitsfindung bei. Und dafür braucht es viel Mut.
Gefährliche Beobachtungen
Man stelle sich beispielsweise vor, beim Überfall auf den G4S-Sitz im Jahr 2013 in Gasperich hätte ein Wanderer oder Jäger die schwer bewaffneten Täter beim Wechsel der Fluchtfahrzeuge zwischen Garnich und Windhof unmaskiert gesehen. Wenn man weiß, dass die
David Lentz war 20 Jahre lang Untersuchungsrichter und ist heute beigeordneter Staatsanwalt am Bezirksgericht Luxemburg.
Täter an diesem Tag mehr als 80 Mal auf Polizisten geschossen haben, dann darf man sich getrost fragen, was sie denn unternehmen würden, wenn sich herausstellt, dass ein Augenzeuge sie identifizieren kann.
In einem derartigen Szenario steht außer Frage, dass dieser Mensch sich fortan in akuter Lebensgefahr befindet. Dazu kommt, dass Name und Anschrift im Ermittlungsdossier
aufgeführt werden. Und: In Luxemburg gibt es kein Gesetz, das dem Zeugen in Kriminalfällen besonderen Schutz gewährt. Dass das aus Sicht des Zeugen kein geringes Problem darstellt, liegt auf der Hand.
„Auch wenn wir derzeit kein Zeugenschutzgesetz haben – etwa mit Tarnidentität und Schutzprogramm – bedeutet das nicht, dass wir keine Mittel haben, um gegen die Gefährdung von Zeugen vorzugehen“, hält dem David Lentz entschieden entgegen. Der beigeordnete Staatsanwalt im Gerichtsbezirk Luxemburg betont, man habe sehr wohl Mittel und Wege, um Zeugen zu schützen.
„Mit allen möglichen Mitteln“
„Wenn sich in einem Prozess zeigt, dass versucht wird, Druck auf einen Zeugen auszuüben, dann kann man sich ja vorstellen, dass das weder der Staatsanwaltschaft noch den Richtern gefällt“, meint David Lentz. „Bei einem derartigen Verdacht wird sofort eine Ermittlung eingeleitet, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Und wenn sich das dann bestätigt, dann handeln wir. In solchen Fällen ist es sogar schon zu Verhaftungen in einem Gerichtssaal gekommen. Zudem nutzen wir denn auch alles, was wir können, um den Zeugen zu schützen.“
Verräterische Papiere
Belastend für viele Zeugen ist auch, dass, wie bereits erwähnt, jede am Prozess beteiligte Partei Zugriff auf die persönlichen Daten des Zeugen erhält – Wohnadresse inklusive. Das alleine reicht oft schon aus, um diesen zu verunsichern.
„2009 war in der Politik deswegen die Idee aufgeworfen worden, in Prozessen anonyme Zeugen zuzulassen – wie es sie etwa in Frankreich gibt“, erzählt David Lentz. Ein solches Vorgehen sollte dem Vorstoß zufolge etwa bei TerrorVerfahren angewendet werden, bei solchen, in denen es um organisierte Kriminalität oder die Mafia geht. Das sei dann aber aus politischen Überlegungen verworfen worden.
„Diese Überlegungen waren nicht falsch, ich will das jetzt nicht kritisieren“, unterstreicht David Lentz. „Die Zeugen haben dann zwar vielleicht weniger Angst, das Vorgehen wirft aber Fragen zu den Rechten der Verteidigung auf.“
Tatsächlich sei es aber auch jetzt denkbar, in Fällen, in denen man von einer Gefährdung ausgehen muss, verschiedene personenbezogene Daten eines Zeugen nicht ins Dossier einfließen zu lassen – im Einzelfall. In der Praxis ist es zudem auch oft so, dass vorsitzende Richter vor Zeugenanhörungen, nicht mehr systematisch die Daten der Zeugen öffentlich im Gerichtssaal verlesen, sondern schlicht abfragen, ob die Informationen auf der richterlichen Vorladung noch immer zutreffend sind.
„Richtern steht aber auch für Zeugenaussagen das Recht zu, den Huis clos zu verhängen“, betont David Lentz. Damit wird die Öffentlichkeit für die Dauer der Aussage ausgeschlossen. Darüber hinaus hat sich die Justiz jüngst die Möglichkeit gegeben, Zeugen über ein Videotelefonat zu vernehmen. Somit kann der Zeuge es vermeiden, dem Angeklagten im gleichen Raum gegenüberzustehen.
Kriminalpolizei wird aktiv
Bei der Kriminalpolizei gebe es zudem eine kleine Abteilung, die für Opferschutz zuständig sei. Und deren langjährige Erfahrung soll nun auch dem Zeugenschutz zugutekommen, sagt David Lentz. Erst im letzten Jahr habe man in einer gemeinsamen Arbeitssitzung festgehalten, sich konkret an Vorgängen beim Zeugenschutz im Ausland zu inspirieren und ein Projekt für Luxemburg auszuarbeiten.
Dazu gehören Fragen wie, welche polizeilichen Mittel eingesetzt werden könnten, um sicherzustellen, dass Zeugen ohne Angst aussagen können. Aber auch Prozeduren zur Einschätzung der Bedrohungslage, Prozeduren zum Umgang mit Zeugen und deren Personendaten, internationale Zusammenarbeit und auch mögliche gesetzliche Änderungen werden ins Auge gefasst.