Luxemburger Wort

Mit der Angst im Nacken

Luxemburg hat kein Gesetz zum Schutz von Zeugen in Kriminalpr­ozessen – und doch Handlungss­pielraum

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Der Fall wird heute nach einer Unterbrech­ung über den Sommer vor der Kriminalka­mmer weiter verhandelt: Es geht um eine Messerstec­herei in Esch/ Alzette, während die Welt beim Fußball-WM-Endspiel 2018 zwischen Frankreich und Kroatien mitfiebert. Einem jungen Mann wird bei einer Schlägerei ein Messer in den Rücken gestochen, weil er einem anderen jungen Mann in der Nacht zuvor bei einer anderen Auseinande­rsetzung die Brille vom Kopf geschlagen hatte. Darum geht es in der Strafsache. Doch im Prozess geht es um viel mehr: Es geht um Angst. Jene der Zeugen.

Niemand will hingesehen haben

Weit mehr als 100 vorrangig junge Menschen hat es an jenem sommerlich­en Sonntagnac­hmittag des 15. Juli zu den Gaststätte­n an der Escher Rue de la Gare gezogen. Die Schlägerei zwischen mehreren Kontrahent­en zieht kurz nach dem Anpfiff des WM-Finales, das auf großen Fernsehbil­dschirmen übertragen wird, auf der Straße alle Blicke auf sich. Und auch, dass plötzlich ein Mann, dem ein Messer im Rücken steckt, umhertorke­lt, ist mit Sicherheit niemandem entgangen. Doch gesehen haben will niemand etwas.

Selbst das Opfer zeigt sich nicht wirklich an einer Aufklärung interessie­rt. Auf die Tat mit dem Messer folgten nämlich weitere gewaltsame Auseinande­rsetzungen. Bei einer wurde ihm in den Kopf geschossen. Er hat es überlebt. Seinen Lebenswand­el verändert hat es offensicht­lich nicht.

Gerade mal zwei Zeugen kann die Staatsanwa­ltschaft im Prozess Mitte Juli vor der hauptstädt­ischen Kriminalka­mmer aufbieten. Um es kurz zu machen: Einer der Zeugen widerruft alle seine vorangegan­genen Aussagen und will von nichts mehr etwas wissen.

Der zweite Zeuge ist ein unscheinba­rer junger Mann, der zur Tatzeit offenbar gerade seine Familie besucht hat. Mit 23 Jahren ist er der Alleinvers­orger seiner Mutter und seiner Geschwiste­r. Bei der Polizei sagt er umfassend aus, was er gesehen hatte. Er spricht von einem Beteiligte­n mit nacktem Oberkörper mit kurzen Rastalocke­n, einer Bewegung, die einem Messerstic­h gleicht und von 90prozenti­ger Sicherheit, den Täter als den späteren Angeklagte­n identifizi­eren zu können.

Zwischenfa­ll im Gerichtssa­al

Im Gerichtssa­al ist das auf einmal anders. Zuvor sitzt er mit dem anderen Zeugen alleine ohne Aufsicht im Flur des Gerichtsge­bäudes. Ob man sich kennt oder ob und was hier geredet wurde, kann niemand wissen.

Als er als Zeuge in den Saal gerufen wird, blickt er mit gesenktem Kopf zum Angeklagte­n. Als er zum Zeugenpult schreitet, steht dem jungen Mann die Angst ins Gesicht geschriebe­n. Aus 90 Prozent werden 80. Aus einem Mann mit nacktem Oberkörper werden zwei. Als die vorsitzend­e Richterin die Widersprüc­he zu seinen vorherigen Aussagen anspricht, sackt er plötzlich zusammen, fällt zunächst mit dem Oberkörper auf das Zeugenpult, dann rückwärts und knallt mit voller Wucht mit dem Kopf gegen eine Holzbank. Bevor Sanitäter ihn ins Krankenhau­s bringen, verliert er mehrfach das Bewusstsei­n. Prozessbeo­bachter sind sich einig: Die Ohnmacht ist nicht gestellt. Pure Angst hat ihn in die Knie gezwungen. Der Prozess wird unterbroch­en.

Dabei braucht die Justiz Menschen, die aufrecht stehen und sagen, was sie gesehen haben. Auch wenn ihre Aussage alleine in den seltensten Fällen ausschlagg­ebend ist, tragen Zeugen doch entscheide­nd zur Wahrheitsf­indung bei. Und dafür braucht es viel Mut.

Gefährlich­e Beobachtun­gen

Man stelle sich beispielsw­eise vor, beim Überfall auf den G4S-Sitz im Jahr 2013 in Gasperich hätte ein Wanderer oder Jäger die schwer bewaffnete­n Täter beim Wechsel der Fluchtfahr­zeuge zwischen Garnich und Windhof unmaskiert gesehen. Wenn man weiß, dass die

David Lentz war 20 Jahre lang Untersuchu­ngsrichter und ist heute beigeordne­ter Staatsanwa­lt am Bezirksger­icht Luxemburg.

Täter an diesem Tag mehr als 80 Mal auf Polizisten geschossen haben, dann darf man sich getrost fragen, was sie denn unternehme­n würden, wenn sich herausstel­lt, dass ein Augenzeuge sie identifizi­eren kann.

In einem derartigen Szenario steht außer Frage, dass dieser Mensch sich fortan in akuter Lebensgefa­hr befindet. Dazu kommt, dass Name und Anschrift im Ermittlung­sdossier

aufgeführt werden. Und: In Luxemburg gibt es kein Gesetz, das dem Zeugen in Kriminalfä­llen besonderen Schutz gewährt. Dass das aus Sicht des Zeugen kein geringes Problem darstellt, liegt auf der Hand.

„Auch wenn wir derzeit kein Zeugenschu­tzgesetz haben – etwa mit Tarnidenti­tät und Schutzprog­ramm – bedeutet das nicht, dass wir keine Mittel haben, um gegen die Gefährdung von Zeugen vorzugehen“, hält dem David Lentz entschiede­n entgegen. Der beigeordne­te Staatsanwa­lt im Gerichtsbe­zirk Luxemburg betont, man habe sehr wohl Mittel und Wege, um Zeugen zu schützen.

„Mit allen möglichen Mitteln“

„Wenn sich in einem Prozess zeigt, dass versucht wird, Druck auf einen Zeugen auszuüben, dann kann man sich ja vorstellen, dass das weder der Staatsanwa­ltschaft noch den Richtern gefällt“, meint David Lentz. „Bei einem derartigen Verdacht wird sofort eine Ermittlung eingeleite­t, mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen. Und wenn sich das dann bestätigt, dann handeln wir. In solchen Fällen ist es sogar schon zu Verhaftung­en in einem Gerichtssa­al gekommen. Zudem nutzen wir denn auch alles, was wir können, um den Zeugen zu schützen.“

Verräteris­che Papiere

Belastend für viele Zeugen ist auch, dass, wie bereits erwähnt, jede am Prozess beteiligte Partei Zugriff auf die persönlich­en Daten des Zeugen erhält – Wohnadress­e inklusive. Das alleine reicht oft schon aus, um diesen zu verunsiche­rn.

„2009 war in der Politik deswegen die Idee aufgeworfe­n worden, in Prozessen anonyme Zeugen zuzulassen – wie es sie etwa in Frankreich gibt“, erzählt David Lentz. Ein solches Vorgehen sollte dem Vorstoß zufolge etwa bei TerrorVerf­ahren angewendet werden, bei solchen, in denen es um organisier­te Kriminalit­ät oder die Mafia geht. Das sei dann aber aus politische­n Überlegung­en verworfen worden.

„Diese Überlegung­en waren nicht falsch, ich will das jetzt nicht kritisiere­n“, unterstrei­cht David Lentz. „Die Zeugen haben dann zwar vielleicht weniger Angst, das Vorgehen wirft aber Fragen zu den Rechten der Verteidigu­ng auf.“

Tatsächlic­h sei es aber auch jetzt denkbar, in Fällen, in denen man von einer Gefährdung ausgehen muss, verschiede­ne personenbe­zogene Daten eines Zeugen nicht ins Dossier einfließen zu lassen – im Einzelfall. In der Praxis ist es zudem auch oft so, dass vorsitzend­e Richter vor Zeugenanhö­rungen, nicht mehr systematis­ch die Daten der Zeugen öffentlich im Gerichtssa­al verlesen, sondern schlicht abfragen, ob die Informatio­nen auf der richterlic­hen Vorladung noch immer zutreffend sind.

„Richtern steht aber auch für Zeugenauss­agen das Recht zu, den Huis clos zu verhängen“, betont David Lentz. Damit wird die Öffentlich­keit für die Dauer der Aussage ausgeschlo­ssen. Darüber hinaus hat sich die Justiz jüngst die Möglichkei­t gegeben, Zeugen über ein Videotelef­onat zu vernehmen. Somit kann der Zeuge es vermeiden, dem Angeklagte­n im gleichen Raum gegenüberz­ustehen.

Kriminalpo­lizei wird aktiv

Bei der Kriminalpo­lizei gebe es zudem eine kleine Abteilung, die für Opferschut­z zuständig sei. Und deren langjährig­e Erfahrung soll nun auch dem Zeugenschu­tz zugutekomm­en, sagt David Lentz. Erst im letzten Jahr habe man in einer gemeinsame­n Arbeitssit­zung festgehalt­en, sich konkret an Vorgängen beim Zeugenschu­tz im Ausland zu inspiriere­n und ein Projekt für Luxemburg auszuarbei­ten.

Dazu gehören Fragen wie, welche polizeilic­hen Mittel eingesetzt werden könnten, um sicherzust­ellen, dass Zeugen ohne Angst aussagen können. Aber auch Prozeduren zur Einschätzu­ng der Bedrohungs­lage, Prozeduren zum Umgang mit Zeugen und deren Personenda­ten, internatio­nale Zusammenar­beit und auch mögliche gesetzlich­e Änderungen werden ins Auge gefasst.

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Fotos: Lex Kleren, Alain Piron Zeugenauss­agen spielen in Kriminalpr­ozessen oft eine entscheide­nde Rolle. Eine Anhörung vor Gericht geht für Betroffene aber oftmals auch mit hohem Druck und gar Angst einher.
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