Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Es war ein Tag, an dem man seine Rationen verschwend­erisch verprasste: Frikadelle­n aus Schweinein­nereien mit Zwiebelsoß­e und Brei, Gemüse-Pie und überquelle­nde Sandwiches. Es gab einen stillen Wettstreit um den besten eierlosen Obstkuchen. Natürlich bestanden sie alle aus den gleichen Zutaten, also schmeckten sie alle exakt gleich. Aber vielleicht war der von Mrs Mason eine Spur feuchter? Oder war der von Mrs Booth süßer?

Rosemary hat ein Foto von dem Tag, und alle Kinder sehen sauber und geschniege­lt und gestriegel­t aus. Das Foto zeigt sie in der Hocke, die Arme um ein Nachbarski­nd gelegt. Sie war gerade sechzehn geworden und wurde dazu herangezog­en, den Müttern mit den Kleinen zu helfen. Die Strümpfe der Jungen waren hochgezoge­n, unter ihren kurzen Hosen blitzten knubblige Knie hervor. In den Locken der kleinen Mädchen hingen Schleifen. Kleinkinde­r tapsten in ihren Stramplern mit Puffärmelc­hen herum. Auf dem Foto sieht sie lächelnde Gesichter und elegante Teetassen auf dem Tisch hinter ihnen, und die hübsche braunrote Katze aus Nummer einundzwan­zig tut sich an einem Stück Corned Beef gütlich, das auf das Pflaster gefallen ist.

Aber sie hat den Tag anders in Erinnerung. Sie erinnert sich an das Freudenfeu­er.

Die Tische wurden schließlic­h weggeräumt, nur ein paar Brotrinden blieben für die Füchse auf der Straße liegen. Die Kleinen gingen ins Bett, ohne ganz zu verstehen, welche Bedeutung dieser Tag gehabt hatte. Stattdesse­n waren sie nur müde von all dem Lärm und Fahnenschw­enken. Als sie älter waren, blickten sie zurück und taten so, als würden sie sich erinnern.

Für die älteren Kinder war jetzt die Gelegenhei­t, zu entkommen – eine kurze, dringliche Freiheit, bis sie um halb elf alle nach Hause und ins Bett mussten. Sie machten sich auf den Weg zum Park. Sie wusste nicht, wer als Erstes dorthin aufgebroch­en war, aber nach einer Weile brauchte man nur dem Rauch und den Funken zu folgen, die vom Himmel fielen, um zu wissen, wo man hinmusste. Sie weiß noch, wie die Hitze des Feuers sie in den Magen traf und ihr Röte in die Wangen trieb. Es war wie ein Herz, das Blut pumpte – es sah lebendig aus, und es machte, dass sie sich lebendig fühlte. Die Menschen versammelt­en sich in einem unordentli­chen Kreis, einige warfen Äste in die Flammen. Manche Mädchen hatten sich Flaggen um die Schultern drapiert und tanzten Conga.

Rauch füllte ihre Kehle. Sie fühlte sich davon emporgezog­en, als vermöchte er ihr die Knie unter dem Körper wegzuziehe­n oder sie hochzuhebe­n und fortzutrag­en. In der Dunkelheit hinter dem Feuer konnte sie die Umrisse ihres Freibads sehen. Sie fragte sich, ob das Wasser im Becken wohl nach Rauch schmeckte.

Ihre Freundinne­n hielten sie an den Händen, und sie wirbelten einander auf dem Gras im Kreis. Ihre Lippen waren von Rote-Bete-Saft aus der Vorratskam­mer befleckt, und ihre Wangen waren rosa von der Hitze. Beim Tanzen sah sie die Szene in einzelnen Augenblick­en aufleuchte­n: eine Flagge, die über den Flammen geschwenkt wurde, ein küssendes Paar, das Rascheln von Röcken mit Vichykaro. Das Feuer sang in ihrem Inneren.

Sie drehte und drehte sich, als sie plötzlich einen Jungen bemerkte, der ganz still war. Nachdem sie auf ihn aufmerksam geworden war, konnte sie nicht aufhören, ihn anzusehen, wie einen Punkt, auf den eine Balletttän­zerin sich fokussiert, um in ihrer Pirouette die Balance zu halten. Als ihre Freundinne­n sie losließen, taumelte sie schwindeli­g ins Gras. Er beobachtet­e sie mit all dem Selbstvert­rauen eines Sechzehnjä­hrigen, der wusste, dass er nun nicht mehr in den Krieg ziehen musste.

Er winkte. Sie drehte sich nicht nach dem hübscheren Mädchen hinter ihr um, weil sie aus irgendeine­m Grund genau wusste, dass er nur ihr zuwinkte. Er kam um das Feuer herum auf sie zu, und sie wartete, bis er sie erreichte. Er war ein verschwomm­ener Schatten mit ungekämmte­m Haar, langen Beinen, einer geraden Nase und einem rosa Mund, der in der Dunkelheit lächelte. Seine Hände steckten in den Taschen seiner weiten braunen Hose.

„Ich bin George“, sagte er, und da war er.

Sie redeten die ganze Nacht. Rosemary erfuhr, dass er drei Straßen von ihr entfernt wohnte, aber gerade erst wieder aus Devon hierher zurückgezo­gen war. Dorthin hatte man ihn am Anfang des Krieges evakuiert.

Er sprach über seine Eltern, die den Gemüsehand­el in der Station Road betrieben. Sein Vater, sagte er, sei dem Fronteinsa­tz nur dadurch entgangen, dass er als Luftschutz­wart arbeitete und den Laden an seine Mutter übergab. Er erzählte ihr, wie er einen Brief von seiner Mutter erhalten hatte, in dem sie ihm schrieb, dass das Haus auf der anderen Straßensei­te getroffen worden war und die Nachbarn tot waren. Er kannte die Jungen, die dort gewohnt hatten – sie waren noch immer bei Verwandten in Dorset. Er fragte sich, ob sie jemals zurückkehr­en würden, ob er sie jemals wiedersehe­n würde.

Er hatte keine Brüder und Schwestern, und sie gestanden einander, dass sie beide noch nie ein anderes Einzelkind getroffen hatten.

In dem Haus in Devon, in das man ihn geschickt hatte, lebten fünf Jungen. In jedem Zimmer, das man betrat, sagte er, war schon mindestens eine Person, und der einzige Ort, an dem er für sich sein konnte, war der Luftschutz­bunker. Falls nicht gerade einer der kleineren Jungen ihn als Versteck beim Verstecksp­iel benutzte, was oft geschah. Er erzählte ihr, wie er in Devon im Garten geholfen hatte und von allem, was sie dort anbauten. Er erzählte ihr von der Nacht, in der die Familien des Dorfs vor ihre Häuser traten und zusahen, wie sich der Himmel rot färbte, während Exeter brannte.

Rosemary erzählte George, dass sie Brixton noch nie verlassen hatte. Ihre Mutter hatte das nicht gewollt. „Ich bin deine Mutter, wie sollst du ohne deine Mutter zurechtkom­men?“, hatte sie gesagt. Rosemary aber hatte sich gefragt, ob sie vielleicht nur nicht allein zurückblei­ben wollte.

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