„Arbeitsprogramm“für Tibeter
Die chinesische Regierung spricht von gesellschaftlichem Fortschritt, Kritiker befürchten systematische Menschenrechtsverletzungen
Peking. Geradezu erstaunlich wenig wurde in den letzten Jahren über die Region Tibet berichtet. Stand die westchinesische Himalaya-Region früher noch aufgrund der aggressiven Siedlungspolitik der chinesischen Zentralregierung regelmäßig im medialen Fokus, richtete sich die Aufmerksamkeit zuletzt vor allem auf das benachbarte Xinjiang, wo Hunderttausende muslimische Uiguren in Internierungslagern festsitzen und anschließend in Werksfabriken im Rest des Landes transferiert werden.
Nun legen offizielle Regierungsdokumente, Satellitenaufnahmen und Berichte staatlicher Medien nahe, dass in Tibet ein ganz ähnliches „Arbeitsprogramm“installiert wurde: Nachweislich absolvierten mindestens 500 000 Tibeter – also 15 Prozent der Bevölkerung – Ausbildungen zum Fabrikarbeiter, mindestens 50 000 wurden in Produktionsstätten außerhalb der autonomen Region entsandt. Die jüngst veröffentlichte Studie der „Jamestown Foundation“, einer Washingtoner Denkfabrik, legt nahe, dass es sich dabei mutmaßlich um Zwangsarbeit handelt. Der federführende Studienautor Adrian Zenz bezeichnet das Vorgehen der Regierung als „schwersten Angriff auf die tibetische Lebensweise seit der Kulturrevolution“.
Tatsächlich sollten Medien bei solch alarmistischen Aussagen vorsichtig sein. Denn der in Deutschland geborene Zenz, der vornehmlich zu den Menschenrechtsverbrechen in Xinjaing forscht, gilt durchaus als umstritten: Chinesische Staatsmedien werfen ihm etwa seinen radikal evangelikalen Hintergrund vor, und dass er vor über zehn Jahren das letzte Mal chinesischen Boden betreten hat. Auch dass er am „Victims of Communism Memorial Foundation“arbeitet, einem rechtskonservativen Thinktank mit engen Verbindungen zur CIA, lässt seine Arbeiten unter einem dubiosen Licht erscheinen.
Fakt ist jedoch, dass Zenz seine Forschung vor allem auf Behördendokumente und Posts aus sozialen Netzwerken von Lokalregierungen stützt – also Daten, die direkt vom chinesischen Staat stammen und öffentlich einsehbar sind. Auch wenn seine Studienergebnisse teilweise von der USRegierung für ihre harsche AntiChina-Politik instrumentalisiert werden, sind sie dennoch wissenschaftlich bis dato haltbar.
Die Position von Peking in Bezug auf das tibetische Arbeitsprogramm liest sich jedoch wenig überraschend diametral gegensätzlich: Die Regierung fördere lediglich die Entwicklung der Region hin zu mehr Wohlstand.
Keine unabhängige Berichterstattung vor Ort möglich Der Kern des Problems ist jedoch, dass sich die Situation vor Ort nicht unabhängig überprüfen lässt. Ausländischen Korrespondenten ist es untersagt, nach Tibet zu reisen. Wenig anders schaut die Situation in Xinjiang aus: Dort werden Korrespondenten bereits mit ihrer Ankunft auf Schritt und Tritt von Sicherheitskräften verfolgt und Interviewversuche bereits von vorneherein unmöglich gemacht. Wer sich ohne Regierungseinladung einem der mit Stacheldrahtzaun abgeschotteten Internierungslager überhaupt nur nähert, wird oft der Provinz verwiesen. Das Thema Tibet wird von der chinesischen Regierung als äußerst sensible Angelegenheit bewertet. Schließlich ist die staatliche Zugehörigkeit völkerrechtlich umstritten, vor 70 Jahren gliederte Peking das Gebiet durch eine Invasion der Volksbefreiungsarmee zwangsweise ein. Als Angela Merkel im Jahr 2007 den Dalai Lama empfang, kühlten die deutsch-chinesischen Beziehungen für längere Zeit deutlich ab.
Die weltweit größte Tibet-Organisation, die „International Campaign for Tibet“, wertet das sogenannte Arbeitsprogramm der chinesischen Regierung als tiefgreifende Menschenrechtsverletzung. Es sei davon auszugehen, dass die Ausbildungsmaßnahmen unter hohem Druck und Zwang erfolgen. „Tatsächlich dürften die Menschen keine andere Wahl haben, als sich in ihr Schicksal zu fügen“, sagt ICT-Geschäftsführer Kai Müller. kret
Tatsächlich dürften die Menschen keine andere Wahl haben, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Kai Müller, Geschäftsführer von „International Campaign for Tibet“