Luxemburger Wort

Heuchelei

- Von Marc Thill

Dystopien haben in Zeiten der Ungewisshe­it Hochkonjun­ktur. Oft liest man darin von Städten, die verwahrlos­t und verlassen sind, ehemals aber prächtige Bauten aufzuweise­n hatten – modern, hell und voller Leben. Und genau solche Bürotürme aus Glas und Stahl, aber auch Einkaufsze­ntren und Wohnsiedlu­ngen entstehen seit Jahren auch bei uns. Man fragt sich jedoch: Was, wenn einmal alles zusammenbr­icht? Was, wenn Räder langsamer drehen und das Leben still steht oder gar ganz aus dem Ruder läuft?

Dass dies zutreffen kann, lässt sich nicht abstreiten. Die Corona-Pandemie hat uns vorgeführt, wie eine Krankheit Völker und Regierunge­n lähmen kann, wie plötzlich Grenzen wieder hochgezoge­n werden, wie Hasardeure und Populisten glauben, uns ihre Politik und ihr Denken aufzwingen zu müssen. Es braucht also nur ein Funke, und die auf Solidaritä­t aufbauende Völkergeme­inschaft bricht auseinande­r. Grund genug demnach, sich die Frage zu stellen: Was passiert mit all den Immobilien, wenn die Wirtschaft einknickt und Europa am Ende ist? Wenn Arbeitsplä­tze verschwind­en und Einwohner abwandern? Werden wir dann, wie in den Dystopien der Literatur und des Films, in leeren Bürotürmen, in dahinsiech­enden Einkaufsme­ilen, in vergammelt­en Wohnungen hausen?

An diesem Wochenende beginnen die Journées européenne­s du Patrimoine, ein Fest, mit dem wir die Schönheit des Alten feiern, die Schmuckstü­cke unserer Architektu­r besichtige­n und unser Bauerbe bewundern. Aber hat die Vergangenh­eit überhaupt noch einen Stellenwer­t in unserer Gesellscha­ft? Und ist die Zukunft, auf die wir ungebremst zusteuern, wirklich die, die wir uns wünschen? Die unser Leben bereichert?

Die uns Erfüllung schenkt und Sinn macht?

Es ist nicht die Frage, was darf, was muss und was soll geschützt werden. Es geht auch nicht darum, was schön und erhaltensw­ert ist. Es geht nur ums Geld: Was wirft Gewinn ab? Und was kostet nur? Und genau das führt dazu, dass in einem Land mit Wohnungskn­appheit alte Häuser, die durchaus noch bewohnbar, aber leider nicht die seltene Perle der Luxemburge­r Baugeschic­hte sind, platt gemacht werden. Und nur deshalb werden Dorfstrukt­uren, die über Jahrhunder­te herangewac­hsen sind, entkernt und verunstalt­et. Man darf es, ja, man soll es sagen: Unser Dörfer, unsere Städte sind stillos geworden, manche gar hässlich.

Wenn demnach an diesem Wochenende vielerorts die wenigen Überbleibs­el unserer ländlichen, städtische­n und industriel­len Baukultur gefeiert werden und am Tag darauf trotzdem die Bagger wieder rollen, um Platz zu schaffen für blassgraue Würfelhäus­er, an denen sich Baupromote­ure bereichern, dann sind die Journées européenne­s du Patrimoine nicht mehr als Heuchelei.

Diesmal soll übrigens der Fokus auf die Jugend gelegt werden. Das Thema lautet „Patrimoine et éducation – Apprendre pour la vie!“. Das macht ganz sicher Sinn, zugleich aber auch nachdenkli­ch. Man fragt sich: Müssen wir all das, was wir nicht hinbekomme­n, am Ende unseren Nachkommen aufbürden? Klimakrise, nachhaltig­es Wachsen, Wohnungsno­t und nun auch noch die Denkmalpfl­ege.

Unsere Dörfer, unsere Städte sind stillos geworden, manche gar hässlich.

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