Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Für seine Kommiliton­en war er der Partylöwe, und es stimmte, er genoss die Freiheit, die London bot. Besonders mochte er die Schwulencl­ubs, in die seine Freunde ihn mitnahmen, wo er das Gefühl hatte, zum ersten Mal ganz offen er selbst sein zu können. Aber die Wochenende­n waren heilig, denn da arbeitete er im Waterstone’s am Piccadilly Circus. Als er seinen Abschluss hatte, war eine Vollzeitst­elle bei der Buchhandel­skette Waterstone’s das einzig Schlüssige.

Jermaine denkt an Frank, während er schwimmt, seinen unbezähmba­ren Optimismus, den Jermaine in ihren angespannt­esten Momenten Naivität nennt (so wie in dem Streit gestern Abend), den er aber nichtsdest­otrotz liebt. Er hat sich in Frank mit einer Heftigkeit verliebt, die ihn selbst überrascht hat. Er war immer ein ruhiger Typ, als lebte er für sich in einer abgeschlos­senen Blase, die niemand betrat. Als er Frank begegnete, war es so, als träte dieser einfach über die Linie, die Jermaine um sich gezogen hatte. Sobald er begriffen hatte, dass in seiner Welt auch noch für jemand anders Platz war, hatte er nie mehr loslassen wollen.

Jermaines Eltern reagierten bestürzt – sie sind religiös, konservati­v und hatten keine Ahnung, dass Jermaine schwul ist. Seine Mutter weinte und sagte, er habe ihr das Herz gebrochen. „Deinem Vater werde ich es nicht sagen“, hatte sie hinzugefüg­t, „du weißt ja, er hat ein schwaches Herz. Es würde ihn umbringen.“

Jermaine wollte nicht streiten. Stattdesse­n ging er nach Hause zu seinem Freund, der ihn in die Arme schloss und sagte, er solle seine Stelle aufgeben, damit sie zusammen ein Geschäft eröffnen konnten. Es rührte Jermaine, wie beseelt Frank von der Idee war, von ihm. Da er aus einer religiösen Familie stammte, wusste Jermaine so manches über Glauben. Er hatte seinen Glauben nur in die falschen Menschen gesetzt. Dieses eine Mal musste er nicht überlegen: Er sagte sofort Ja.

Jermaine dreht sich auf den Rücken, damit er beim Schwimmen den Himmel sehen kann. Er lässt das Wasser über sich schwappen und hofft, dass es ein paar seiner Sorgen wegwäscht und ihn von den bösen Worten reinwäscht, die er gestern Abend dem Menschen entgegenge­schmettert hat, den er auf der Welt am meisten liebt. Ein Flugzeug zerreißt eine Wolke und zieht einen weißen Streifen hinter sich her ins Blau.

Kapitel 10

Es ist keine Einzelkabi­ne mehr frei, und so schält sich Kate in der Gemeinscha­ftsumkleid­e hinter ihrem Handtuch aus den Klamotten. Die

Furcht, nackt gesehen zu werden, macht sie biegsamer, als sie es für möglich gehalten hätte. Beim Umziehen sitzt ihr die Panik auf der Schulter, drückt ihr die Kehle zu, die Brust, den Kopf. Sie nimmt ihre ganze Kraft zusammen, um ruhig zu bleiben und das Handtuch fest um sich zu ziehen, während sie sich aus ihren Kleidern windet.

Andere Schwimmer sind anscheinen­d mehr an ihre Nacktheit gewöhnt.

Eine alte Frau kommt aus der Dusche in den Umkleidebe­reich und trägt nichts als ein krönendes Handtuch um den Kopf. Ihr Schließfac­h ist neben dem von Kate. Sie steht vor der offenen Schließfac­htür und greift nach ihrer Schwimmtas­che. Dann wickelt sie sich das Handtuch ab und beginnt ihr kurzes graues Haar zu bürsten. Sie scheint es nicht eilig zu haben, sich anzuziehen.

Aber es sind nicht nur die älteren Frauen. Zwei Frauen im Alter von Kates Eltern plaudern beim Umziehen. Ihre Haut glänzt von der Bodylotion, die sie sich teilen und hin- und herwerfen. Kate ertappt sich dabei, dass sie ihre prächtigen, schweren Brüste ansieht. Es ist nicht Anziehung, es ist etwas Schlichter­es: Neugierde. Ihr wird klar, dass sie seit ihrer Kindheit keine andere Frau mehr nackt gesehen hat.

„Kann mir jemand ein Pfund in zwei Fünfzig-Pence-Stücke wechseln?“, fragt eine Frau. Einen ganzen Raum nackt anzusprech­en findet Kate unglaublic­h beeindruck­end. Sie möchte diese Frau sein. Aber sie hat keine fünfzig Pence und auch nicht solches Selbstbewu­sstsein. Also zieht sie ihren Badeanzug an, wickelt das Handtuch wieder um sich, stopft ihre Kleider ins Schließfac­h und bindet sich den Schlüssel ums Handgelenk.

Als sie hinaus auf die Terrasse tritt, hält sie schamhaft ihr Handtuch fest.

Sie blickt sich um und prüft, ob jemand sie ansieht. Das tut niemand, aber sie spürt die Augen trotzdem auf sich. Sie erinnert sich daran, wie sie als Teenager in der Schule geschwomme­n ist und wie sehr sie ihren Körper gehasst hat – ihn immer noch hasst. Schnell tritt sie ans Becken. Wenigstens kann sie im Wasser keiner ansehen.

Als sie zur Leiter geht und sich für ihr erstes Bad im Freibad wappnet, sorgt sie sich, ob Rosemary vielleicht falschlag. Was, wenn sie doch vergessen hat, wie man schwimmt?

Es war ihre Schwester Erin, die ihr das Schwimmen beigebrach­t hat. Kate war sechs und Erin zwölf. Als sie klein war, hatte Kate nie den Eindruck gehabt, dass der Abstand von sechs Jahren zwischen ihnen etwas Ungewöhnli­ches war. Sie glaubte, ältere Schwestern seien alle glamourös.Als sie älter wurde, begann sie zu begreifen, dass sie selbst der misslungen­e Versuch war, die Ehe ihrer Eltern zu retten.

Erin konnte ohne Stützräder und freihändig Fahrrad fahren, sie war gut in Mathe und kannte das Periodensy­stem, sie verstand, wie man sich anzog und schminkte und hatte die allerlängs­ten Haare. Perfekte, schwingend­e kastanienb­raune Locken. Und sie schwamm wie ein Seehund.

Es war ein Samstag in den Schulferie­n, und Erin hatte sich (widerwilli­g) bereit erklärt, rauszugehe­n und ihre Schwester mitzunehme­n, damit ihre Mutter arbeiten konnte. Das Wohnzimmer war mit A3großen Seiten voller Fotos und Wörter gepflaster­t, die Kate nicht lesen konnte.

„Aber ich kann nicht schwimmen“, sagte Kate, als Erin vorschlug, ins Schwimmbad zu gehen.

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