Generalmobilmachung
Nach Artilleriegefechten um Berg Karabach droht ein offener Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan
Zwei Panzer kriechen durch die Steppe, hinter ihnen geht eine Schützenkette vor. Dann schlägt eine Rakete ein, eine Explosion blitzt auf, einer der Panzer verschwindet in einer Qualmwolke.
Das Video, das feindliche Truppen unter gezieltem Beschuss zeigt, veröffentlichte gestern das armenische Verteidigungsministerium. Regierungschef Nikol Paschinjan verkündete auf Facebook, in Berg-Karabach stellten sich die Armenier erfolgreich einem Angriff der Aserbaidschaner entgegen. „Seid bereit, unsere heilige Heimat zu schützen!“
Der seit Jahrzehnten ungelöste Konflikt zwischen den Kaukasusstaaten Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach droht wieder, zum offenen Krieg zu werden. Armenien rief gestern den Kriegszustand aus und kündigte die Generalmobilmachung an. Alle Wehrpflichtigen hätten sich bei ihren Militärkommissionen zu melden. Zuvor hatte der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev eine Militäroperation an der Demarkationslinie begonnen sowie von der Eroberung von sieben Dörfern gesprochen. In Aserbaidschan soll in einigen Landesteilen ab Mitternacht Ortszeit (22.00 Uhr MESZ) der Kriegszustand mit Ausgangssperren gelten.
Gegenseitige Vorwürfe
Laut den Armeniern attackierte der Feind mit Kampfflugzeugen und Raketenwerfern gezielt zivile Objekte und Schulen, eine Mutter und ihre Tochter seien umgekommen. Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium dagegen warf den armenischen Streitkräften vor, sie hätten gegen 6 Uhr morgens an der gesamten Frontlinie aserbaidschanische Stellungen
sowie Wohnsiedlungen unter Feuer genommen.
Propagandistisch ist der Krieg bereits in vollem Gang. Armenische Militärsprecher verkündeten den Abschuss von zwei gegnerischen Hubschraubern, drei Panzern und 14 Drohnen. Die Gegenseite gab nur den Verlust eines Hubschraubers zu, meldete ihrerseits die Einnahme von sechs Dörfern und die Vernichtung
von zwölf Flak-Raketenwerfern der Armenier. Schon im Juli hatte es blutige Grenzgefechte gegeben. Jetzt konzentrieren sich die Kämpfe wieder auf die Rebellenrepublik Berg Karabach.
I988 war in dem mehrheitlich armenischen Bezirk der damaligen Sowjetrepublik Aserbaidschan ein blutiger Kleinkrieg ausgebrochen. Er dauerte vier Jahre. Nach Gemetzeln
auf beiden Seiten vertrieben die christlichen Armenier außer den aserbaidschanischen Kämpfern auch die muslimische Zivilbevölkerung.
Seitdem fordert Baku die Rückgabe Karabachs, außerdem des Landkorridors zur gemeinsamen Grenze, den ebenfalls Armenien kontrolliert. Mehrere Verhandlungsrunden unter Vermittlung der OSZE und Moskaus scheiterten. Gestern wurden nach Mittag keine schweren Gefechte mehr gemeldet. Für einen ernsthaften Krieg hätte Aserbaidschan an der Grenze zwei Drittel seiner Streitkräfte versammeln müssen, schreibt die Moskauer Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“unter Berufung auf Militärexperten. „Davon ist nichts zu sehen.“
Militärisches Kräfteverhältnis
Aber das durch Öl- und Gasexporte reich gewordene Aserbaidschan rüstet seit Jahrzehnten auf. Sein Militärhaushalt beträgt laut dem Portal Global Firepower 2,8 Milliarden Dollar, der Armeniens keine 1,4 Milliarden Dollar. Die Armee
Wenn es Krieg gibt, wird sich Russland nur schwer heraushalten können. Aschdar Kurtow, Moskauer Politologe
Aserbaidschans hat 126 000 Soldaten und 570 Panzer, der feindliche Nachbar nur 45 000 Mann und 110 Panzer. Aber dazu kommen 20 000 Kämpfer aus Berg Karabach. Und viele Experten halten Moral und Ausbildung der Armenier für deutlich besser.
Die besitzen praktisch keine Kampfjets, gehören aber zum russisch geführten Militärbündnis OVKS. Russland unterhält im armenischen Gjumri einen Militärstützpunkt, wo auch MiG-29-Jäger stationiert sind. „Wenn es Krieg gibt“, sagt der Moskauer Politologe Aschdar Kurtow, „wird sich Russland nur schwer heraushalten können.“Ein OVKS-Sprecher rief gestern zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes auf.