„Fahrt in die Hölle“
Im Libanon ist die Bildung einer unabhängigen Regierung gescheitert – Das Land droht nun, noch tiefer ins Chaos abzusinken
Jan Kubis war fassungslos. „Wann hören sie endlich auf, ihre üblichen Spielchen zu spielen und beginnen, die Hilferufe ihres Volkes zu hören“, fragte der UN-Sondergesandte für den Libanon, nachdem der designierte libanesische Ministerpräsident Mustafa Adib vorgestern den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung zurückgegeben hatte. „Ein solches Maß an Verantwortungslosigkeit“, schimpfte der tschechische Diplomat, habe er noch nie erlebt.
Adib scheiterte an der Quadratur des Kreises. Im konfessionell strukturierten Libanon, der seit seiner Unabhängigkeit am 22. November 1943 fortwährend von ausländischen Mächten bevormundet wird, wollte der sunnitische Politiker eine von konfessionellen und geopolitischen Interessen völlig unabhängige Expertenregierung bilden. Diese sollte die kleine Republik am östlichen Mittelmeer nach der verheerenden Explosionskatastrophe am 4. August mit fast 200 Toten und über 6 500 Verletzten mit französischer Unterstützung aus der massiven Wirtschaftskrise führen.
Zwei Mal war der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in den letzten sieben Wochen in den Libanon gekommen, um die halsstarrigen Politiker an die Kandare zu nehmen. Er traf sich auch mit Vertretern der proiranischen Hisbollah, die seit Jahren mit mehreren Ministern in der Regierung vertreten ist. Der politische Zweig der Schiitenpartei wird von Paris nicht als Terrororganisation eingestuft, was die Trump-Administration als Sabotage ihrer anti-iranischen MittelostStrategie interpretiert.
Um Macron im Libanon das Leben schwer zu machen, verhängte Washington daher Sanktionen gegen zwei mit der Hisbollah verbündete Ex-Minister, was nicht nur in schiitischen Kreisen in Beirut, sondern auch in Teheran als Affront gewertet wurde. Also schaltete man auf stur, als der designierte libanesische Ministerpräsident von den Schiiten Entgegenkommen bei der Bildung der unabhängigen Expertenregierung verlangte.
Das Beharren auf Privilegien
Konkret ging es um die Besetzung des Finanzministeriums, das nach libanesischem „Gewohnheitsrecht“in den letzten Jahrzehnten immer von einem Schiiten besetzt wurde. So sollte es auch in diesem Jahr sein. Schließlich muss der Finanzminister alle Regierungsgeschäfte mit seiner Unterschrift absegnen – ein Privileg, auf das die von der Hisbollah und Amal-Partei dominierten Schiiten nicht verzichten wollen. Die USA verdächtigen dagegen das schiitische Finanzministerium, den Staatshaushalt zur
Finanzierung der Hisbollah missbraucht zu haben, ohne dafür Beweise vorgelegt zu haben.
Die gescheiterte Regierungsbildung ist für den Libanon eine weitere Katastrophe. Nun sei das Land auf den „Schutz von Allah“angewiesen, sagte der designierte Ministerpräsident, nachdem er Staatspräsident Michel Aoun den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung zurückgegeben hatte. Auch der christliche Politiker hatte sich zuletzt dafür ausgesprochen, die in der Verfassung des Libanon verankerten konfessionellen Interessen nicht mehr bei der
Vergabe von Regierungsposten zu berücksichtigen.
Ohne eine neue Regierung warnte Aoun erst vor zwei Wochen, drohe dem Libanon eine „Fahrt in die Hölle“. Dort ist das Land nach Einschätzung der meisten Beobachter längst angekommen. Der Libanon ist praktisch bankrott. Kriminelle Spekulationen der korrupten Politikerklasse sind dafür verantwortlich, dass das libanesische Pfund gegenüber dem Dollar mehr als 80 Prozent seines Wertes verlor. Der Währungsverfall stürzte auch große Teile der Mittelklasse in tiefe Armut. Dem Land droht eine Hungersnot, im schlimmsten Fall ein Wiederaufflammen des Bürgerkrieges.
Rettung ist vorerst nicht in Sicht. Frühestens nach den Wahlen in den USA ist mit der Bildung einer neuen Regierung zu rechnen. Neue US-Sanktionen gegen den Libanon dürften die tiefe Krise weiter verschärfen.
Die gescheiterte Regierungsbildung ist für den Libanon eine weitere Katastrophe.