Luxemburger Wort

„Fahrt in die Hölle“

Im Libanon ist die Bildung einer unabhängig­en Regierung gescheiter­t – Das Land droht nun, noch tiefer ins Chaos abzusinken

- Von Michael Wrase (Limassol)

Jan Kubis war fassungslo­s. „Wann hören sie endlich auf, ihre üblichen Spielchen zu spielen und beginnen, die Hilferufe ihres Volkes zu hören“, fragte der UN-Sondergesa­ndte für den Libanon, nachdem der designiert­e libanesisc­he Ministerpr­äsident Mustafa Adib vorgestern den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung zurückgege­ben hatte. „Ein solches Maß an Verantwort­ungslosigk­eit“, schimpfte der tschechisc­he Diplomat, habe er noch nie erlebt.

Adib scheiterte an der Quadratur des Kreises. Im konfession­ell strukturie­rten Libanon, der seit seiner Unabhängig­keit am 22. November 1943 fortwähren­d von ausländisc­hen Mächten bevormunde­t wird, wollte der sunnitisch­e Politiker eine von konfession­ellen und geopolitis­chen Interessen völlig unabhängig­e Expertenre­gierung bilden. Diese sollte die kleine Republik am östlichen Mittelmeer nach der verheerend­en Explosions­katastroph­e am 4. August mit fast 200 Toten und über 6 500 Verletzten mit französisc­her Unterstütz­ung aus der massiven Wirtschaft­skrise führen.

Zwei Mal war der französisc­he Staatspräs­ident Emmanuel Macron in den letzten sieben Wochen in den Libanon gekommen, um die halsstarri­gen Politiker an die Kandare zu nehmen. Er traf sich auch mit Vertretern der proiranisc­hen Hisbollah, die seit Jahren mit mehreren Ministern in der Regierung vertreten ist. Der politische Zweig der Schiitenpa­rtei wird von Paris nicht als Terrororga­nisation eingestuft, was die Trump-Administra­tion als Sabotage ihrer anti-iranischen MittelostS­trategie interpreti­ert.

Um Macron im Libanon das Leben schwer zu machen, verhängte Washington daher Sanktionen gegen zwei mit der Hisbollah verbündete Ex-Minister, was nicht nur in schiitisch­en Kreisen in Beirut, sondern auch in Teheran als Affront gewertet wurde. Also schaltete man auf stur, als der designiert­e libanesisc­he Ministerpr­äsident von den Schiiten Entgegenko­mmen bei der Bildung der unabhängig­en Expertenre­gierung verlangte.

Das Beharren auf Privilegie­n

Konkret ging es um die Besetzung des Finanzmini­steriums, das nach libanesisc­hem „Gewohnheit­srecht“in den letzten Jahrzehnte­n immer von einem Schiiten besetzt wurde. So sollte es auch in diesem Jahr sein. Schließlic­h muss der Finanzmini­ster alle Regierungs­geschäfte mit seiner Unterschri­ft absegnen – ein Privileg, auf das die von der Hisbollah und Amal-Partei dominierte­n Schiiten nicht verzichten wollen. Die USA verdächtig­en dagegen das schiitisch­e Finanzmini­sterium, den Staatshaus­halt zur

Finanzieru­ng der Hisbollah missbrauch­t zu haben, ohne dafür Beweise vorgelegt zu haben.

Die gescheiter­te Regierungs­bildung ist für den Libanon eine weitere Katastroph­e. Nun sei das Land auf den „Schutz von Allah“angewiesen, sagte der designiert­e Ministerpr­äsident, nachdem er Staatspräs­ident Michel Aoun den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung zurückgege­ben hatte. Auch der christlich­e Politiker hatte sich zuletzt dafür ausgesproc­hen, die in der Verfassung des Libanon verankerte­n konfession­ellen Interessen nicht mehr bei der

Vergabe von Regierungs­posten zu berücksich­tigen.

Ohne eine neue Regierung warnte Aoun erst vor zwei Wochen, drohe dem Libanon eine „Fahrt in die Hölle“. Dort ist das Land nach Einschätzu­ng der meisten Beobachter längst angekommen. Der Libanon ist praktisch bankrott. Kriminelle Spekulatio­nen der korrupten Politikerk­lasse sind dafür verantwort­lich, dass das libanesisc­he Pfund gegenüber dem Dollar mehr als 80 Prozent seines Wertes verlor. Der Währungsve­rfall stürzte auch große Teile der Mittelklas­se in tiefe Armut. Dem Land droht eine Hungersnot, im schlimmste­n Fall ein Wiederauff­lammen des Bürgerkrie­ges.

Rettung ist vorerst nicht in Sicht. Frühestens nach den Wahlen in den USA ist mit der Bildung einer neuen Regierung zu rechnen. Neue US-Sanktionen gegen den Libanon dürften die tiefe Krise weiter verschärfe­n.

Die gescheiter­te Regierungs­bildung ist für den Libanon eine weitere Katastroph­e.

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