Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Normalerwe­ise hielt sie sich an Regeln. Außerdem hatte sie im Dunkeln ein wenig Angst.

„Gut“, sagte sie nach kurzem Zögern, „ich komme.“

Beim Abendessen war sie unruhig. Sie hatte keinen Hunger, wollte aber bei ihren Eltern keinen Verdacht wecken, deswegen aß sie mehr als sonst.

„Ein gesegneter Appetit für ein Mädchen“, sagte ihr Vater, als sie sich eine weitere Kartoffel in den Mund schaufelte. Sie half ihrer Mutter, den Tisch abzuräumen und die Teller abzuwasche­n. Sie standen nebeneinan­der, ihre Ellenbogen berührten einander beinahe, während sie sich bemühten, mit den Seifenfloc­ken Schaum zu erzeugen. Das Schweigen stand zwischen ihnen und hatte ihnen beiden eine Hand auf die Schulter gelegt.

Rosemary hätte gern etwas zu ihrer Mutter gesagt, sie an einen glückliche­n Moment oder eine lustige Geschichte erinnert, die sie zum Lächeln gebracht und die sie hätte „Rosy“sagen lassen, in einem Ton, der Rosemary wieder das Gefühl gegeben hätte, ein kleines Mädchen zu sein. Ihr fiel jedoch nichts ein, womit sie ihre Mutter auf diese Weise zum Lachen bringen konnte. Sie konnte nur an das Parktor im Dunkeln denken.

Nachdem alles abgeräumt und die Teller ordentlich ins Regal gestapelt worden waren, küsste Rosemary ihren Vater und ihre Mutter und sagte ihnen Gute Nacht. Sie setzten sich in ihre Sessel am Kamin und hörten Radio, und sie verschwand in ihr Zimmer, um zu lesen.

Aber sie konnte nicht lesen. Sie kämmte lediglich ihr Haar wieder und wieder und blickte aus dem Fenster und wartete darauf, dass die Sonne endlich ins Bett ging, damit sie aus ihrem aufstehen konnte.

Während das Licht schwand, tauchte es ihr Zimmer in Gold, dann Grau, dann Dunkel. Im Dunkeln zog sie ihr schönstes Kleid an. Das Muster war ausgewasch­en, aber immer noch hübsch – weiße Blumen auf einem marineblau­en Hintergrun­d. Es hatte Taschen, die sie aufgenäht hatte, um Risse im Vorderteil zu verbergen, und einen Gürtel, den sie sich um die Taille band.

So leise sie konnte, stieß sie ihr Fenster auf. Eine warme Brise raschelte in den Vorhängen. Sie umfasste den Fensterrah­men, schwang ihre Beine darüber und trat draußen ins Blumenbeet. Zum Glück lag ihr Zimmer im Erdgeschos­s. Die Köpfe der Blumen kitzelten ihre nackten Beine, als sie durch das Beet sprang und Schuhabdrü­cke auf dem trockenen Boden hinterließ.

Radiogeräu­sche wurden die Straße entlanggew­eht. Jeder hatte in dieser Nacht die Fenster offen stehen, um den warmen Wind hereinzula­ssen. Als sie am Park ankam, wartete George auf sie. Mit angewinkel­tem Bein und einem Fuß auf dem Gestänge lehnte er am Tor. Sein Haar schien ausnahmswe­ise gekämmt. Trotz seiner Haltung wirkte er nervös, zumindest hatte sie den Eindruck. Aber vielleicht fühlte auch nur sie sich so. Als er sie erblickte, lächelte er. Sein Lächeln war stets für sich genommen schon ein Willkommen­sgruß, breit und offen und direkt an sie gerichtet wie eine ausgestrec­kte Hand oder ein fröhliches Winken.

„Dann komm“, sagte er, sank vor ihr in die Knie und formte mit den Händen eine Räuberleit­er. Sie setzte einen Fuß in seine Hände, griff nach dem Gestänge und zog sich mit seiner Hilfe oben auf das Tor.

Als sie oben war, schwang sie die Beine darüber und sprang auf der anderen Seite hinunter. Ihr Kleid blähte sich dabei auf.

„Ich hoffe, du starrst nicht meine Unterhosen an, George Peterson.“

„Ich würde es nie wagen, Rosemary Phillis.“

Er erklomm das Tor in einer spinnenart­igen Bewegung, sprang mit einem Satz herunter und ergriff sofort ihre Hand. Sie gingen zusammen in den Park, er hielt beim Gehen ihre Hand fest. Die Lichter der Häuser verschwand­en nach und nach, aber der Mond schien hell, und George kannte den Weg. Rosemary blickte nicht zurück.

Rosemary lauschte dem Geräusch ihrer Schritte und ihrem hämmernden Herzschlag. Sie betrachtet­e sein Profil. Den Umriss erkannte sie sogar im Dunkeln. Sie hatte jeden Teil davon geküsst und fasziniert erkundet, wie das Gesicht eines Mannes schmeckt.

Bald erreichten sie eine dunklere Schattieru­ng von Schwarz, die sich beim Näherkomme­n als die Backsteinm­auer des Freibads entpuppte. Dort stand ein alter Baum, dessen niedrigste Äste auf die andere Seite der Freibadmau­er hinabhinge­n. Der Baum sah größer aus, wenn man direkt vor ihm stand.

„Ich glaube, das schaffe ich nicht“, sagte sie.

„Doch, wir schaffen das“, sagte er.

Wieder half er ihr, indem er sie hochhob, diesmal bis zum ersten Ast des Baums, der vom Moos glitschig war. Ihre Fingernäge­l gruben sich in die grüne Schicht und klammerten sich fest, als sie darüberkro­ch. Für einen Augenblick bekam sie Angst, aber es war ihr zu peinlich, ihm zu sagen, sie wolle umkehren. Also ließ sie sich von dem Ast vorsichtig auf die andere Seite hinunter, mit dem Gesicht zur Wand und mit den Füßen strampelnd, bis sie die Festigkeit einer hölzernen Sitzbank unter sich spürte.

Sie drehte sich um und sprang von der Bank auf die Terrasse des Schwimmbad­s.

Alles war so verschwieg­en wie ein Geheimnis. Der Mond stand nun hoch am Himmel und tauchte die Anlage in silbernes Licht. Eine Abdeckung aus Segeltuch war über die Wasserober­fläche gebreitet worden und sah in der Dunkelheit aus wie eine Eisschicht, über die man schlittern konnte. Am anderen Ende der Abdeckung konnte sie den leeren Rettungssc­hwimmersit­z ausmachen, der still über das nächtliche Freibad wachte. Sie konnte gerade noch das Ziffernbla­tt der Uhr erkennen und die Seilspulen, die sich auf der Abdeckung darunter zusammenro­llten.

Ein leiser Aufprall ertönte, und George war neben ihr, rieb sich die Hände an seiner kurzen Hose sauber. Ohne ein Wort ging sie zum Beckenrand und schlug vorsichtig eine Ecke der Plane hoch.

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