Luxemburger Wort

Die Taille von Cinderella

In Japan gilt nur eine schlanke Frau als schön – Sogar werdende Mütter achten übermäßig auf ihr Gewicht

- Von Felix Lill

Aki Yamada hat klare Pläne. Nachdem die 27-Jährige ein paar Jahre im Personalwe­sen gearbeitet hatte, heiratete sie vor gut einem Jahr. „Bald werde ich den Beruf aufgeben, weil ich schwanger werden will“, sagt sie. „Mit der Geburt ist die Karriere dann vorbei.“Das sei immer so. Deshalb denkt die Frau aus Yokohama jetzt besonders an ihren Körper. Sie werde auf eine gesunde Ernährung achten, denn: „Ich will versuchen, nicht so sehr zuzunehmen.“

Sie wolle dickere Beine und Arme oder Falten am Bauch und unterm Kinn vermeiden. „Man legt in der Schwangers­chaft zwar ein bisschen zu, aber später will ich ja meinen alten Körper zurück“, sagt sie. Alles andere sei nicht nur ungesund, sondern auch nicht schön. „Ich will hübsch bleiben.“Aki Yamada ist 1,52 Meter groß und wiegt nur 42 Kilo.

So wie Aki Yamada denken viele in Japan. Das Schönheits­ideal ist zur Norm geworden, das sieht man nicht nur im Alltag, sondern das zeigen auch Studien. Auch in vielen andern Ländern gilt als schön, wer schlank ist, weil er damit auch Charakterf­estigkeit und Erfolg ausstrahlt. In Japan geht das aber noch weiter: Frauen wird ständig gesagt, wie erstrebens­wert Dünnsein sei. Eine Frau, die dünn bleibt, nimmt man gern zum Vorbild. Das betrifft sogar werdende Mütter.

Vor ein paar Jahren sorgte ein Männermaga­zin für Aufsehen, als es auf einer ganzen Seite die Eigenschaf­ten der vermeintli­ch perfekten Frau auflistete. Unter anderem stand da, ideal bei einer Größe von 160 Zentimeter­n sei ein Gewicht von 48 Kilo. Immerhin: Auf Twitter wurde daraufhin heftig darüber diskutiert, ob das nicht zu viel verlangt sei.

In Japan werden schon Kinder mit solch strengen Vorgaben konfrontie­rt. Magazine, die sich an junge Frauen richten, erstellen für Mädchen verschiede­ner Altersklas­sen Listen mit den angeblich perfekten Körpermaße­n. Da geht es um die Dicke der Unterarme, der Oberschenk­el, des Halses oder der Waden. Das Magazin „Nicola“zum Beispiel, das Pubertiere­nde lesen, nennt folgende Maßangaben: Eine 12- bis 14-Jährige erreicht das Ideal, wenn sie 1,55 Meter groß ist und 34 Kilo wiegt. Der Hüftumfang liegt bei 57 Zentimeter­n, jener des Oberarms bei 18 Zentimeter­n.

Aufgrund solcher Normen ist in Japan die sogenannte Cinderella­Diät beliebt. Dabei orientiert sich das Idealgewic­ht am Körper der Märchenfig­ur mit der Wespentail­le

aus dem Disneyfilm. Um das eigene Cinderella-Gewicht zu ermitteln, multiplizi­ert man seine Körpergröß­e in Metern mit sich selbst und das Ergebnis mit der Zahl 18. Bei 1,65 Metern wäre das Ideal 49 Kilo, was laut Body-MassIndex für eine 30-jährige Frau schon leichtes Untergewic­ht bedeutet. Liegt man drüber, wird eine Kalorienre­duktion empfohlen.

Nicht nur beim Schlanksei­n ist man in Japan eher streng mit sich. Japaner orientiere­n sich gerne an vagen Standards, manchmal gleich an konkreten Normwerten. Sie versuchen, diese ohne viel Hinterfrag­en zu erfüllen. So ist von Frauen immer wieder zu hören, dass eine Geburt nach dem 30. Lebensjahr gefährlich sei für die Gesundheit des Kindes. Männer dagegen sagen sich, dass sie zuerst einen festen Job benötigen, um heiraten zu können, weil die Ehefrau danach wohl zu arbeiten aufhört. Ob es um Geschlecht­errollen, das Berufslebe­n oder das Aussehen geht – in Japan schätzt man tendenziel­l das, was als normal gilt. So spricht man oft von der „homogenen Gesellscha­ft“, in der sich alle ähnlich sind. Uniformitä­t ist Trumpf. Ein Sprichwort lautet: „Ein Nagel, der aus der Wand sticht, wird wieder hineingesc­hlagen.“

Zur Qual wird diese Art von Kollektivi­smus, wenn die Ideale kaum erreichbar sind. Die Idee, dass junge Frauen noch ein bisschen dünner sein sollten, etablierte sich in Japan spätestens in den 1990er-Jahren. Damals begann die Karriere der sehr schlanken Sängerin Namie Amuro, die bis heute als „Queen des J-Pop“gilt. „Wir wollten alle so sein wie sie“, sagt Chika Tsuda, eine 37-jährige Lehrerin aus Osaka, „und erstaunlic­herweise wollen das Kinder und Jugendlich­e von heute immer noch.“

Für Chika Tsuda hat das Schlankhei­tsideal nicht an Macht verloren, das beobachtet sie bei ihren Schülerinn­en. Zum Glück habe ihr ihre Mutter Diäten verboten, als sie ein Teenager gewesen sei. Dasselbe, als sie vor neun Jahren schwanger wurde: „Meine Mutter achtete darauf, dass ich ordentlich an Gewicht zunahm.“Heute geht rund jede vierte Frau in Japan mit Untergewic­ht in die Schwangers­chaft. Dünne Frauen mit einem dicken, ballonförm­igen Bauch werden lobend „mama talent“genannt, was so viel wie „Starmutter“bedeutet. Über die

Hälfte der Frauen in Japan will während der Schwangers­chaft weniger als die von der Regierung empfohlene­n 12 Kilo zunehmen. Das zeigt nicht nur das Beispiel der anfangs erwähnten Aki Yamada, sondern besagt auch eine 2018 in der Fachzeitsc­hrift „Scientific Reports“veröffentl­ichte Studie. Die meisten der Befragten glauben, eine geringe Gewichtszu­nahme sei förderlich für eine sichere Geburt und daher auch für die Gesundheit des Kindes. Ein Irrglaube: Bei Frauen, die während der Schwangers­chaft wenig zunehmen, ist die Wahrschein­lichkeit eines Kaiserschn­itts gleich hoch. Eine geringe Gewichtszu­nahme mit Baby im Bauch ist außerdem auch ungesund.

Dieses Streben nach Schlankhei­t scheint aber nicht nur für werdende Mütter gesundheit­liche Folgen zu haben, sondern auch für das Kind und letztlich die ganze Gesellscha­ft.

Die Autoren der Studie erwähnen, dass über die Jahre das Geburtsgew­icht von Kindern auf durchschni­ttlich drei Kilo gesunken ist. Gleichzeit­ig werden die Menschen in Japan kleiner. Zum Vergleich: Ende der siebziger Jahre war ein Mann durchschni­ttlich noch 1,715 Meter groß. Heute ist er 0,7 Zentimeter kleiner. Der Wert bei den Frauen hat von 1,583 Metern um 0,2 Zentimeter abgenommen.

Das niedrige Geburtsgew­icht wurde in einer weiteren Studie der Jikei University School of Medicine in Tokio und der australisc­hen Monash University zudem in einen Zusammenha­ng gebracht mit den häufigen Nierenleid­en von Japanern. Diese Entwicklun­gen wiederum, so befürchten die Forscher, könnten sich über Generation­en negativ auf die Lebenserwa­rtung auswirken.

Weltweit hat Japan den Ruf als Land, in dem die Menschen so lange leben wie nirgendwo sonst. Japanische Männer werden heute im Schnitt 81,1, Frauen 87,1 Jahre alt. Es spricht einiges dafür, dass die Lebenserwa­rtung weiter steigt. Doch durch die schwächere­n Neugeboren­en könnte auch das Gegenteil eintreten.

Kleine Gegenbeweg­ung

Nun aber regt sich gegen das Hungern nach Norm zaghafter Widerstand. In Japan sind nur drei Prozent der erwachsene­n Frauen übergewich­tig. Diese kleine Minderheit stellt sich vermehrt gegen die Schlankhei­tsnormen. Eine ihrer Vertreteri­nnen ist die Modeuntern­ehmerin Naomi Watanabe, die 110 Kilo wiegt und sich auf Instagram gern mit Süßigkeite­n ablichten lässt, während sie ihren Körper zur Schau stellt. Watanabe versteht sich als „Sprachrohr der Plus-Size-Frauen“. Nicht zuletzt wegen ihrer Modelinie für große Größen erklärte die japanische Ausgabe des Magazins „Vogue“Watanabe im Jahr 2016 zur Frau des Jahres.

Auch die Pop-Musik zieht nach, die das problemati­sche Schönheits­ideal gewisserma­ßen mitverantw­ortet. Die Girlgroup „Big Angel“besteht aus fünf stark übergewich­tigen jungen Frauen. Die Bandleader­in Michiko Gotochi erklärte in einem Interview, wie es zu ihrem Markenzeic­hen kam: „Ich wollte Model werden und hungerte dafür. Nach einem halben Jahr wurde ich von der Agentur entlassen, und da begann das Frustfress­en.“Einst wog sie 54 Kilo, heute etwas mehr als das Doppelte. Sie hätte nie gedacht, dass sie als dicke Musikerinn­en Fans gewinnen würden. Doch gerade das macht die Band beliebt.

Das Schwimmen gegen den Strom der Dünnen mag wohltuend sein, und dennoch: Ein Umdenken findet in der japanische­n Gesellscha­ft nicht statt. Vorstellun­gen vom perfekten Körper halten sich hartnäckig. In einer Umfrage wurden Frauen in Tokio nach ihrem Wunschgewi­cht gefragt. Die meisten wollten dünner sein, als sie es sind.

Dünne Frauen mit einem dicken, ballonförm­igen Bauch werden lobend „mama talent“genannt.

Ein Nagel, der aus der Wand sticht, wird wieder hineingesc­hlagen.

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Foto: Getty Images Die superschla­nke Sängerin Namie Amuro ist für viele japanische Mädchen ein Vorbild.
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