Die gespaltenen Staaten
Ein Streifzug über die politischen Schlachtfelder 2020 in den USA
Am 3. November werden rund 150 Millionen Amerikaner den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten wählen. Die Entscheidung zwischen Donald Trump und Joe Biden könnte, wie schon vor vier Jahren, an ein paar tausend Stimmen
in wenigen „Swing States“liegen. Ein Streifzug über einige der politischen Schlachtfelder 2020.
Bob Franken (90) hat schon bessere Tage erlebt. Das war, bevor er seine Frau mitten in der Pandemie verlor, seinen sieben Fußballplätze großen Garten vor den Toren der Finanzmetropole Charlotte aufgab und sich kaum mehr bewegen konnte. „Ich war mein eigener Herr“, erinnert sich Bob an die Zeit, als Amerika für ihn großartig war. Mit den Knieschmerzen, dem Krebs und zuletzt dem Rücken kam die Abhängigkeit. 2019 musste er sein Anwesen verkaufen und zog in die Siedlung seiner Tochter im benachbarten Union County.
Vielfältiges North Carolina
Bobs Fenster in die Welt ist „Fox News“, ein Kanal, der eine alternative Realität schafft. Darin sind nicht die außer Kontrolle geratene Pandemie mit den fast 200 000 Covid-19-Toten und 30 Millionen Arbeitslosen das Problem, sondern schwarze Plünderer, linke Randalierer und kriminelle Einwanderer. Der Präsident wird als Bewahrer von Recht und Ordnung inszeniert, der Nachbarschaften wie Bobs vor dem Absturz in das Chaos schützt. Bei diesem kommt die Botschaft an. „Wir brauchen hier keinen Sozialismus“, sagt der Mann, für den die Hilfe anderer Schwäche bedeutet. Dass ihn der demokratische Gouverneur von North Carolina zwingt, eine Maske zu tragen, betrachtet er als Einschränkung seiner Freiheit.
Willkommen in Trump-Land, wo zwei von drei Einwohnern 2016 ihre Stimme für den Amtsinhaber abgaben. Wenn der Präsident am 3. November die 15 Wahlmännerstimmen North Carolinas wiedergewinnen will, muss er in Kreisen wie Union County mindestens so viele Stimmen holen wie vor vier Jahren. Die Wahlkampfteams Trumps und Bidens haben den Südstaat mit seinen hauchdünnen Mehrheiten als ultimativen „Swing State“identifiziert. Ein idealer Spiegel Amerikas in seiner Vielfalt und Spaltung.
In den belaubten Vororten Charlottes sowie rund um die Hauptstadt Raleigh und die Weltklasse-Universitäten Durham und
Chapel Hill ist das andere Amerika zuhause: Gebildeter, multikultureller, wohlhabender und nicht ganz so religiös. Zum Beispiel Ben (58) und Sally (57) Bloom, die in einem Haus mit Veranda am Stadtrand von Raleigh im bevölkerungsreichen Wake County leben.
Die Blooms nehmen Trumps Versagen bei der Eindämmung der Pandemie persönlich. Erst recht nach den von Starreporter Bob Woodward dokumentierten Lügen über die Gefährlichkeit des Covid-19-Erregers. Das Paar versteht nicht, „wie Leute jemanden wählen können, der Tausende Menschenleben auf dem Gewissen hat“. Ben und Sally tragen sogar eine Maske, wenn sie am Abend die gewohnte Runde durch ihre Nachbarschaft drehen. Die „Black Lives Matter“-Tafeln in den Vorgärten zeigen, wie weit die Unterstützung für die Proteste gegen Polizeigewalt und Rassismus nach dem Tod des Schwarzen George Floyd unter dem Knie eines weißen Polizisten vorgedrungen sind.
Wake County und Union County in North Carolina stehen symbolisch für die Schlacht um das subund exurbane Amerika, in dem die Präsidentschaftswahlen entschieden werden. Am Ende könnte es an ein paar tausend Stimmen hängen. Wie 2016, als in drei Wechselwähler-Staaten des Mittleren Westens genau 77 000 Stimmen darüber entschieden, wer alle Wahlmännerstimmen des jeweiligen Bundesstaates holte. Für den Sieg bei den Wahlen sind 270 Elektoren nötig.
Doppelschichtiges Wisconsin
Wisconsin gehörte dazu und zählt auch diesmal wieder zu den acht Bundesstaaten, die über den Ausgang der Wahlen entscheiden dürften. Mit dabei sind Pennsylvania, Michigan, Minnesota, Arizona, Georgia und Florida. Der Demoskop Nate Cohn schätzt die Zahl der relevanten Wähler, die sich in dem hoch polarisierten Land „wirklich überzeugen lassen“und an Orten leben, die entscheidend sind, auf „ein Prozent aller Erwachsenen“.
Einer davon ist Jerry Volenec (45), dessen Milchhof mit 300 Kühen auf einer Anhöhe im Südwesten Wisconsins steht. Die Driftless genannte Gegend mit ihren tiefen Tälern und Sandstein-Kliffs ist eine geologische Besonderheit im Mittleren Westen der USA. Sie blieb von der industriellen Landwirtschaft verschont, weil das Land nur schwer zu bestellen ist. Vor Trump taten sich Republikaner hier schwer, weil die Familienbetriebe demokratisch wählten. Barack Obama holte alle 22 Wahlkreise.
Volenec schilderte einem Reporter des „New Yorker“kürzlich, warum er sich vor vier Jahren für Trump entschied. Obama habe ihn enttäuscht, als die Regierung in Zeiten von Tiefstpreisen auch noch die Schulmilch abschaffte. „Ich dachte, ein Geschäftsmann im Weißen Haus würde mir helfen.“Wie 62 Prozent der Wähler im ländlichen Amerika gab auch Volenec seine Stimme dem New Yorker Milliardär. Statt die Probleme der Landbevölkerung zu lösen, vertiefte Trump mit seiner „Gott und Gewehre“-Rhetorik die kulturellen Gräben und zementierte die Stadt-Land-Spaltung.
Für einen Sieg in Wisconsin muss Biden Wähler wie Volenec zurückholen und vor allem afroamerikanische Wähler in Milwaukee und Liberale in Madison mobilisieren. Welchen Effekt die Proteste von Kenosha nach den Schüssen der Polizei auf Jacob Blake haben werden, lässt sich schwer abschätzen. Die am Lake Michigan gelegene Stadt ist so gespalten wie Wisconsin insgesamt. Die konkurrierenden Besuche Trumps und Bidens in der Stadt zeigten den Wählern immerhin einen klaren Kontrast auf. Während Trump vor einem zerstörten Geschäft in Kenosha so tat, als stünde das Land in Flammen, zeigte der ehemalige Vizepräsident Anteilnahme und telefonierte mit dem Opfer der Polizeigewalt.
2016 entschieden in drei „Swing States“genau 77 000 Stimmen darüber, wer alle Wahlmänner des jeweiligen Staates holte.
Zweigeteiltes Pennsylvania
Biden versucht die „blaue Mauer“in Wisconsin, Michigan und Pennsylvania wieder zu errichten, die Trump vor vier Jahren einriss. Und macht Fortschritte. Seit seinem Überraschungssieg lag der Präsident in nur drei der insgesamt 94 Umfragen in diesen „Swing-Staaten“vorn. Die Formel für einen Sieg Bidens in Pennsylvania mit seinen 20 Wahlmännerstimmen ist seit Jahrzehnten bekannt. Demokraten müssen hier in den Ballungszentren um Philadelphia und Pittsburgh mit großem Vorsprung gewinnen, um die erwarteten Verluste in den ländlichen Gebieten zu kompensieren. Hillary Clinton verlor Pennsylvania mit 47,85 zu 48,58 Prozent – so knapp wie nirgendwo sonst.
Trump gelang es weiße, ländliche Regionen vor allem im Nordosten des alten Industriestaats mit unerhört großen Margen zu gewinnen. In Susquehanna County unweit von Bidens Geburtsort Scranton kam er mit seinem „Make America Great Again“-Versprechen auf 73 Prozent der Stimmen.
„Ich liebe, was er macht“, gestand die Friseurin Mary Vender einem Reporter der „Washington Post“vor dem Besuch Trumps in
Scranton am Tag der Kandidatenrede Bidens. „Er ist für unsere Leute“, ihre Wortwahl entspricht der seiner Anhänger, die in Trumps Handelskriegen, Mauerbau und Muslim-Bann und dem Rückzug aus der Welt das Erfüllen eines Versprechens sehen. Seine Wähler sind keinesfalls bloß abgehängte Verlierer der Globalisierung.
Widersprüchliches Florida
Nirgendwo trat dies deutlicher in Erscheinung als in The Villages, einer wohlhabenden Rentnersiedlung unweit von Disneyland im Herzen Floridas. Fast sieben von zehn der über 120 000 Einwohner haben 2016 für Trump gestimmt. Weil politische Werbeschilder in den Vorgärten nicht erlaubt sind, ziehen Trump-Anhänger mit durch Fahnen geschmückten Golfwagen durch The Villages. Ende Juni, auf dem Höhepunkt der „Black Lives Matter“-Proteste, leitete der Präsident den Tweet eines Unbekannten weiter. Angehängt war ein Video, das einen mit „Trump 2020“und „America First“dekorierten Golfwagen zeigt, von dem ein Mann „White Power“ruft. Das ist der Schlachtruf weißer Nationalisten, der auch bei dem Fackelmarsch rechter Extremisten in Charlottesville 2017 zu hören war.
Wie damals trifft Trump auch diesmal nicht den richtigen Ton.
Der Wechsel weniger Stimmen reicht, um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen.
„Danke den großartigen Leuten von The Villages … Der korrupte Joe ist erledigt. Bis bald!!!“Der Tweet stand 14 Stunden lang im Netz, bevor ihn jemand löschte. „Wir kämpfen um die Seele der Nation und der Präsident hat seine Seite gewählt“, kritisierte Biden die Taktlosigkeit. „Wir werden diese Schlacht gewinnen.“
Dafür müsste der Demokrat in dem stets umkämpften „SwingStaat“an Orten wie The Villages ein paar Prozentpunkte zulegen. Keine einfache Aufgabe, wie Chris Stanley weiß, die den kleinen Club der Demokraten anführt. „Wir sehen uns einem konstanten Sperrfeuer aus Hass ausgesetzt“, beschreibt sie die aufgeheizte Atmosphäre in „Floridas freundlichster Heimatstadt“.
Dennoch gibt es Anzeichen, dass sich etwas bewegt. Der Grund dafür hat mit der tödlichen Pandemie zu tun, die der Präsident sträflich heruntergespielt hat. Vorbei sind die sorgenfreien Tage, in denen die Senioren golfen, schwimmen, essen gehen oder im Freien trinken. Acht von zehn sind hier über 65 Jahre alt – die Altersgruppe, die 80 Prozent der Covid19-Toten ausmacht. „Ich fühle mich gefangen“, klagt eine Einwohnerin von The Villages, die sich in einem Werbespot Bidens als Donna vorstellt. Wegen „der Untätigkeit Trumps“in der Pandemie habe sie ihre Enkel sechs Monate lang nicht sehen können.
Willkommen in der Realität
Die Realität des unsichtbaren Erregers macht dem Präsidenten überall in den „Swing States“zu schaffen. In Florida so sehr wie im Rostgürtel, im Mittleren Westen wie im Süden der USA. „Das Corona-Virus nimmt Trumps Präsidentschaft ins Visier“, warnte der konservative Kolumnist Ross Douthat bereits im März vor den Konsequenzen der fehlenden Dringlichkeit bei der Bekämpfung der Pandemie.
Wenn der Eindruck nicht trügt, könnte er Recht behalten. Der Wechsel weniger Stimmen bei den Rentnern, der ländlichen Bevölkerung, den Vororten der Städte und den Weißen, reicht, um den Ausgang der Wahlen in den tief gespaltenen Staaten von Amerika in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen.