Transkaukasischer Teufelskreis
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg Karabach wurzelt in traumatischen Erinnerungen
Der Gegenangriff rolle erfolgreich, versicherte der aserbaidschanische General Mais Barchudarow in einer Presseerklärung gestern von der Frontlinie. „Die Einheiten, die ich kommandiere, werden bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, um den Feind zu vernichten.“
Das Pathos der Kommandeure ist blutig, die Statistik der Kämpfe um Berg-Karabach auch. Die Armenier hatten am Sonntag 200 getötete Feinde, gestern zehn abgeschossene Feindpanzer gemeldet. Die Aserbaidschaner konterten mit einer Streckenmeldung von 550 gefallenen Armeniern. Aber es gibt auch reale Verluste. Das militärische Oberkommando der Rebellenrepublik Berg-Karabach berichtete von insgesamt 59 eigenen Gefallenen, die Aserbaidschaner vermeldeten nur ihre zivilen Opfer: sechs Tote und 26 Verletzte.
Berg-Karabach gilt als Konflikt, der nicht nur eingefroren, sondern vergessen ist. Ein eigentlich aus der Mode gekommener, ein ethnischer Konflikt. Aber auch nach 32 Jahren ist keine Lösung in Sicht. Ein transkaukasischer Teufelskreis.
Gemetzel und Menschenraub
Die Unruhen in der armenischen Enklave in Aserbaidschan begannen 1988, eskalierten zu einem Kleinkrieg und 1992 zu offenen Feldschlachten. Auf beiden Seiten gab es grausame Gemetzel, Plünderungen und Menschenraub. Etwa im Dorf Maraga, wo 1992 über 50 Armenier getötet und 53 verschleppt wurden. Oder in dem Städtchen Chodschali, wo im gleichen Jahr über hundert aserbaidschanische Zivilisten abgeschlachtet wurden. Bis zum ersten funktionierenden Waffenstillstand 1994 kamen zwischen 18 000 und 35 000 Menschen um, darunter Tausende Zivilisten, in der Mehrheit Aserbaidschaner. Über 45 000 Aserbaidschaner wurden aus BergKarabach vertrieben, insgesamt mussten über eine Million Menschen aus Aserbaidschan oder Armenien fliehen.
Ethnisches Großreinemachen, befeuert von archaischen Feindbildern. Armenier redeten damals von einem Videofilm, der zeigt, wie Aserbaidschaner eine schwangere Armenierin schlachten. Aserbaidschaner wiederum erzählten, in Armenien habe man Rekruten solch einen Film gezeigt, danach hätten sie aserbaidschanische Gefangene totgeprügelt.
Angst vor großem Krieg
Anfang 1988 waren bei einem Pogrom in Sumgait, einer Vorstadt der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku, Hunderte Armenier umgekommen. Danach gab es auch Stimmen, der sowjetische Geheimdienst KGB habe das Blutbad angezettelt. Aber jedenfalls weckten diese Gewalttätigkeiten bei den Armeniern traumatische Erinnerungen an den Völkermord im Osmanischen Reich, dem im Ersten Weltkrieg Hunderttausende Armenier zum Opfer gefallen waren (siehe auch Interview).
Und jetzt kämpfen nach Angaben des armenischen Außenministeriums Militärinstrukteure des Erzfeindes Türkei auf Seiten der Aserbaidschaner. „Die Türkei stellt eine Gefahr für die Sicherheit Armeniens und der ganzen Region dar“, warnt der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan.
Auch westliche Medien spekulieren über einen großen Krieg zwischen der Türkei und Russland, der traditionellen Schutzmacht Armeniens. Aserbaidschan bediene sich in der Tat türkischer und israelischer Ausbilder, sagt der Moskauer Militärexperte Viktor Litowkin. Und der aserbaidschanische Präsident Ilcham Alijew habe die Kämpfe losgetreten.
„Er hat Unsummen für die Aufrüstung seiner Armee ausgegeben, muss der Öffentlichkeit beweisen, dass er Berg-Karabach nicht nur mit Worten befreien will.“Aber obwohl beide Seiten die Mobilmachung ausgerufen haben, glaubt Litowkin nicht an einen großen Krieg. „Das sind Grenzgefechte um kleine Dörfer und Hügel.“Wollte Alijew BergKarabach
zurückerobern, müsste er mindestens die Hälfte seiner Truppen viel schlagartiger in Bewegung setzen. „Das ist nicht der Fall.“
Spirale dreht sich weiter
Aber auch eine Lösung ist nicht in Sicht. Einerseits hält Armenien mit Berg-Karabach und dem breiten „Sicherheitskorridor“zur eigenen Grenze über 20 Prozent des aserbaidschanischen Staatsgebietes besetzt. Andererseits sind die jetzt knapp 150 000 Einwohner der Rebellenrepublik praktisch zu 100 Prozent Armenier, wollen auf keinen Fall wieder Untertanen Bakus werden. Der Teufelskreis aus unergiebigen Verhandlungsrunden und blutigen Artilleriegefechten droht sich weiterzudrehen.