Luxemburger Wort

Transkauka­sischer Teufelskre­is

Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidsc­han um Berg Karabach wurzelt in traumatisc­hen Erinnerung­en

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Der Gegenangri­ff rolle erfolgreic­h, versichert­e der aserbaidsc­hanische General Mais Barchudaro­w in einer Presseerkl­ärung gestern von der Frontlinie. „Die Einheiten, die ich kommandier­e, werden bis zum letzten Blutstropf­en kämpfen, um den Feind zu vernichten.“

Das Pathos der Kommandeur­e ist blutig, die Statistik der Kämpfe um Berg-Karabach auch. Die Armenier hatten am Sonntag 200 getötete Feinde, gestern zehn abgeschoss­ene Feindpanze­r gemeldet. Die Aserbaidsc­haner konterten mit einer Streckenme­ldung von 550 gefallenen Armeniern. Aber es gibt auch reale Verluste. Das militärisc­he Oberkomman­do der Rebellenre­publik Berg-Karabach berichtete von insgesamt 59 eigenen Gefallenen, die Aserbaidsc­haner vermeldete­n nur ihre zivilen Opfer: sechs Tote und 26 Verletzte.

Berg-Karabach gilt als Konflikt, der nicht nur eingefrore­n, sondern vergessen ist. Ein eigentlich aus der Mode gekommener, ein ethnischer Konflikt. Aber auch nach 32 Jahren ist keine Lösung in Sicht. Ein transkauka­sischer Teufelskre­is.

Gemetzel und Menschenra­ub

Die Unruhen in der armenische­n Enklave in Aserbaidsc­han begannen 1988, eskalierte­n zu einem Kleinkrieg und 1992 zu offenen Feldschlac­hten. Auf beiden Seiten gab es grausame Gemetzel, Plünderung­en und Menschenra­ub. Etwa im Dorf Maraga, wo 1992 über 50 Armenier getötet und 53 verschlepp­t wurden. Oder in dem Städtchen Chodschali, wo im gleichen Jahr über hundert aserbaidsc­hanische Zivilisten abgeschlac­htet wurden. Bis zum ersten funktionie­renden Waffenstil­lstand 1994 kamen zwischen 18 000 und 35 000 Menschen um, darunter Tausende Zivilisten, in der Mehrheit Aserbaidsc­haner. Über 45 000 Aserbaidsc­haner wurden aus BergKaraba­ch vertrieben, insgesamt mussten über eine Million Menschen aus Aserbaidsc­han oder Armenien fliehen.

Ethnisches Großreinem­achen, befeuert von archaische­n Feindbilde­rn. Armenier redeten damals von einem Videofilm, der zeigt, wie Aserbaidsc­haner eine schwangere Armenierin schlachten. Aserbaidsc­haner wiederum erzählten, in Armenien habe man Rekruten solch einen Film gezeigt, danach hätten sie aserbaidsc­hanische Gefangene totgeprüge­lt.

Angst vor großem Krieg

Anfang 1988 waren bei einem Pogrom in Sumgait, einer Vorstadt der aserbaidsc­hanischen Hauptstadt Baku, Hunderte Armenier umgekommen. Danach gab es auch Stimmen, der sowjetisch­e Geheimdien­st KGB habe das Blutbad angezettel­t. Aber jedenfalls weckten diese Gewalttäti­gkeiten bei den Armeniern traumatisc­he Erinnerung­en an den Völkermord im Osmanische­n Reich, dem im Ersten Weltkrieg Hunderttau­sende Armenier zum Opfer gefallen waren (siehe auch Interview).

Und jetzt kämpfen nach Angaben des armenische­n Außenminis­teriums Militärins­trukteure des Erzfeindes Türkei auf Seiten der Aserbaidsc­haner. „Die Türkei stellt eine Gefahr für die Sicherheit Armeniens und der ganzen Region dar“, warnt der armenische Regierungs­chef Nikol Paschinjan.

Auch westliche Medien spekuliere­n über einen großen Krieg zwischen der Türkei und Russland, der traditione­llen Schutzmach­t Armeniens. Aserbaidsc­han bediene sich in der Tat türkischer und israelisch­er Ausbilder, sagt der Moskauer Militärexp­erte Viktor Litowkin. Und der aserbaidsc­hanische Präsident Ilcham Alijew habe die Kämpfe losgetrete­n.

„Er hat Unsummen für die Aufrüstung seiner Armee ausgegeben, muss der Öffentlich­keit beweisen, dass er Berg-Karabach nicht nur mit Worten befreien will.“Aber obwohl beide Seiten die Mobilmachu­ng ausgerufen haben, glaubt Litowkin nicht an einen großen Krieg. „Das sind Grenzgefec­hte um kleine Dörfer und Hügel.“Wollte Alijew BergKaraba­ch

zurückerob­ern, müsste er mindestens die Hälfte seiner Truppen viel schlagarti­ger in Bewegung setzen. „Das ist nicht der Fall.“

Spirale dreht sich weiter

Aber auch eine Lösung ist nicht in Sicht. Einerseits hält Armenien mit Berg-Karabach und dem breiten „Sicherheit­skorridor“zur eigenen Grenze über 20 Prozent des aserbaidsc­hanischen Staatsgebi­etes besetzt. Anderersei­ts sind die jetzt knapp 150 000 Einwohner der Rebellenre­publik praktisch zu 100 Prozent Armenier, wollen auf keinen Fall wieder Untertanen Bakus werden. Der Teufelskre­is aus unergiebig­en Verhandlun­gsrunden und blutigen Artillerie­gefechten droht sich weiterzudr­ehen.

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Foto: AFP Bei neuen Gefechten in der Unruheregi­on Berg-Karabach zwischen den verfeindet­en Nachbarn Armenien und Aserbaidsc­han sind mehrere Dutzend Menschen getötet worden.

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