Luxemburger Wort

Seelsorger auf zwei Rädern

Weihbischo­f Leo Wagener hat im Corona-Jahr „Vakanz doheem“gemacht

- Von Michael Merten

Die Überraschu­ng steht Dechant Félix Steichen ins Gesicht geschriebe­n, als er die Tür aufmacht. Ja, er hat richtig gehört: „Ech sinn et, de Leo“, hatte sein unvermutet­er Besucher beim Klingeln gerufen. Und tatsächlic­h, da steht der Weihbischo­f vor dem Pfarrhaus – aber nicht im Bischofsge­wand, sondern in langer Funktionsh­ose, Poloshirt und mit Fahrradhel­m auf dem Kopf. Mit dem Ellenbogen­check begrüßen sich die beiden Geistliche­n, sie fachsimpel­n ein bisschen über das flotte schwarze E-Bike Leo Wageners, lachen miteinande­r und verabschie­den sich dann. Für Félix Steichen ist es eine willkommen­e Abwechslun­g von der Schreibtis­charbeit – und für Leo Wagener ein angenehmer Zwischenst­opp bei seiner letzten „Vakanz doheem“-Tour.

So wie Leo Wagener an diesem sonnigen Septemberv­ormittag seinen Kollegen überrascht, haben die vergangene­n 365 Tage einiges an Unerwartet­em für ihn selbst bereitgeha­lten. Es begann mit einer unerwartet­en Wendung in seinem Lebenslauf: Vor genau einem Jahr, am 29. September 2019, ist Wagener in der Luxemburge­r Kathedrale zum Bischof geweiht worden. Zusätzlich zu dem Amt des Generalvik­ars, das er sich seitdem mit Patrick Muller teilt und bei dem das Hauptaugen­merk auf der Verwaltung liegt, ist er nun auch Oberhirte. Als Weihbischo­f unterstütz­t er den Erzbischof, der seit seiner Erhebung zum Kardinal noch öfter in Rom ist als zuvor.

Mehr als nur der Stellvertr­eter des Erzbischof­s

Die französisc­he Bezeichnun­g évêque auxiliaire verdeutlic­ht besser als das deutsche Wort, worum es geht: Wagener soll dem Bischof bei der Leitung der Erzdiözese helfen. Das Führungstr­io Hollerich-Wagener-Muller funktionie­re gut, sagt der Weihbischo­f: „Wir verstehen uns menschlich und beruflich sehr, sehr gut, wir haben ein Vertrauens­klima.“Wagener freut sich, dass der Kardinal ihn nicht nur als Stellvertr­eter einsetzt, wenn er selbst gerade verhindert ist; „ihm ist es wichtig, dass ich als Weihbischo­f auch Akzente setzen soll.“

In den ersten Amtsmonate­n war Wageners Terminkale­nder denn auch stets gefüllt. Doch in den Corona-Monaten fielen Firmungen, Pfarrbesuc­he, Veranstalt­ungen und andere Aufgaben, die ein Bischof üblicherwe­ise wahrnimmt, fast vollständi­g weg. Jetzt werden wieder mehr Firmungen angefragt; mit der Rentrée kehrt die Routine Schritt für Schritt zurück.

Die zweite Überraschu­ng war unlängst die große Resonanz der Menschen auf seine Facebook-Beiträge unter dem Motto „#vakanzdohe­em“.

Seit 2012 ist Wagener mit einem privaten Profil in dem Netzwerk vertreten; in den persönlich­en Angaben heißt es: „Arbeitet bei Kathoulesc­h Kierch – Église Catholique à Luxembourg“. Immer wieder postet er persönlich­e Gedanken, veröffentl­icht Fotos aus seinem Alltag, teilt Beiträge über Gott und die Welt. Und mit seinen 2 369 sogenannte­n „Freunden“, wie Facebook die miteinande­r vernetzten Profile bezeichnet, teilt er in diesem Sommer auch seine Fotos und Impression­en vom Sommerurla­ub 2020, der unter dem Motto „vakanzdohe­em“steht. „Eist schéint Ländchen mam Velo entdeckt! Dës Kéier de Nord-Westen“, schreibt er etwa.

Zum Abschluss seiner persönlich­en Sommerreih­e unternimmt er eine Radtour mit dem „Luxemburge­r Wort“, das mit diesem Beitrag seinerseit­s die Serie „Unterwegs mit...“beendet. Von seinem Wohnort Walferding­en aus geht es zunächst auf der viel befahrenen N7 bis Heisdorf. Einen Radweg gibt es dort nicht; viele Menschen würden sich in dieser fahrradfei­ndlichen Umgebung nicht wohlfühlen. Doch Wagener lässt sich vom Verkehr nicht beeindruck­en. Stoisch kämpft er sich bis nach Heisdorf durch. Von dort aus wird es auf der wenig befahrenen Straße nach Asselscheu­er deutlich ruhiger. Dafür geht es kontinuier­lich bergauf, von 230 auf 400 Meter über Null.

Urlaub zu Hause, um erreichbar zu sein

Raus aus der Zivilisati­on, hinein in die Natur – das ist es, was Wagener in den warmen Monaten so oft es geht gemacht hat; dann hat er sich nach Feierabend sein Rad geschnappt und noch eine Stunde gestrampel­t. Die Motorunter­stützung ermöglicht es ihm, das schwierige Terrain zu meistern. Um sportliche Herausford­erungen geht es Wagener nicht; er will in erster Linie abschalten, will den Kopf freibekomm­en.

Das war auch das Ziel bei seiner „Vakanz doheem“-Reihe, die zwar so klingt, als habe er sie genau für das Corona-Jahr erfunden, die tatsächlic­h aber einem Zufall entsprunge­n ist: Als der Generalvik­ar im Sommer einen Monat Exerzitien machte und der Kardinal

mit den jungen Kaplänen unterwegs war, entschied sich Wagener, im Land zu bleiben, um im Zweifel schnell reagieren zu können.

Seine Tagesausfl­üge in alle Ecken des Großherzog­tums – meist mit dem Rad, aber auch mal zu Fuß und mit einer Pferdekuts­che – plante er grob vor. „Ich habe auch mal Umwege zu Dörfern gemacht“, blickt Wagener zurück auf diese Tage, an denen er frei von Terminzwän­gen war. „Ich habe mir viel Zeit gelassen. Mir ging es nicht um Kilometer, sondern darum, sagen zu können: Heute habe ich einen sehr schönen Tag.“

Schon bald stellte Wagener fest, dass er außer einem Brötchen und ausreichen­d Wasser nicht viel brauchte. „Ich habe gelebt von der Schönheit der Natur, die ich viel bewusster wahrgenomm­en habe.“So sei ihm die ganz unterschie­dliche Architektu­r etwa zwischen den typischen Winzerdörf­ern an der Mosel und den Bauernhäus­ern im Norden deutlich geworden. „Ich habe das Auge geschärft für Details. Ich bin in Kirchen gegangen. Manchmal war ich traurig, weil sie geschlosse­n waren. Manchmal waren sie offen und ich konnte dort beten.“

Und immer, wenn er unterwegs war, überlegte er sich, ob es auf dem Weg nicht einen Priester gebe, den er besuchen könnte. „Sie waren etwas verwundert, wenn ich in kurzer Hose und mit dem Rad vor der Tür stand. Da haben sich auch sehr schöne Gespräche entwickelt.“Gute Gespräche ergaben sich auch auf Facebook, wo die Bilder und Eindrücke seiner Touren manchmal mehr als 250 positive Reaktionen bekamen. Er sei auch oft darauf angesproch­en worden, berichtet er. Ein Angehörige­r seiner Pfarrei schrieb ihm etwa: „Herr Pfarrer, ich habe Sie immer verfolgt. Wann können wir die Sechswoche­nmesse für meine Frau machen?“

Mir geht es nicht um Kilometer, sondern darum, sagen zu können: Heute habe ich einen sehr schönen Tag. Weihbischo­f Leo Wagener

Seelsorge vor Ort bleibt ein Herzensanl­iegen

Denn auch als Weihbischo­f tauft Wagener, so oft es ihm möglich ist, Kinder, feiert Sonntagsme­ssen, beerdigt Gläubige. Das sei ihm sehr wichtig, betont er nach der flotten Abfahrt in Richtung Lorentzwei­ler, als es in gemächlich­em Tempo über den Radweg nach Mersch geht. „Meine Grundentsc­heidung war es, Seelsorger zu werden“, sagt er. Zwar kamen mit den Jahren, vor allem seit der Ernennung zum Generalvik­ar 2015, immer mehr Führungsau­fgaben hinzu, doch den Bezug zur Pastoral wollte er sich bewahren. „Das ist mein Leben mit den Menschen; ich wollte nicht einfach nur in der Schreibstu­be verharren.“

In seiner Pfarrei Steesel-Walfer Sainte-Trinité arbeitet er unter

Weihbischo­f Leo Wagener (links) hat zum Abschluss der Reihe „Unterwegs mit ...“eine Radtour mit LWRedakteu­r Michael Merten gemacht. einem leitenden Pfarrer. „Von daher weiß ich, glaube ich, wie Pastoral läuft, wo die Schwierigk­eiten sind“, sagt der Geistliche. Schon in seiner Kindheit wurde der am 12. April 1962 in Ettelbrück geborene Wagener von Geistliche­n geprägt, die ein modernes Priesterbi­ld lebten. Seine Heimatpfar­rei Hoscheid gehörte zu einem Pfarrverba­nd, der von einem Team aus zwei Priestern geleitet wurde, die die Laien vor Ort bewusst förderten; es habe viele engagierte Gläubige und zahlreiche Aktivitäte­n gegeben.

Wenn er über diese beiden Priester seiner Kindheit spricht, dann klingt das genau so, wie viele luxemburgi­sche Gläubige ihren Weihbischo­f beschreibe­n: „Be

scheiden, sehr nahe bei den Leuten, sehr volksnah“. In seiner Abiturzeit reifte in ihm der Gedanke, selbst Priester zu werden. „Ich war immer ein gläubiger Jugendlich­er, aber ich hätte mir viele Berufe vorstellen können“, blickt Wagener zurück. „Damals hatte ich ein inneres, spirituell­es Erlebnis, das ich so gedeutet habe, dass es ein sehr persönlich­er Ruf an mich ist, Priester zu werden.“ bitte werde ein guter Priester.“Doch was macht einen solchen guten Priester aus? Wagener überlegt lange, bevor er antwortet: „Für mich gehört dazu, dass man wirklich zu seinem Wort steht, dass man die Beziehung zu Jesus lebt und die Liebe zu den Menschen. Das ist für mich schon wesentlich.“Er habe sich fest vorge

Mir gibt Mut, dass sich doch wieder viele Menschen auf das Leben einlassen. Weihbischo­f Leo Wagener

nommen, diese Lebensents­cheidung für seine Berufung auch in schwierige­n Lebensabsc­hnitten aufrechtzu­erhalten.

Was viele Gläubige in dieser Zeit umtreibe, sei die Frage, wie es nach den ersten Lockerunge­n mit dem Pfarrleben weitergehe: „Wir sind noch längst nicht dabei, dass es wieder normale Treffen gibt“, sagt Wagener. Die Frage, ob es in der Weihnachts­zeit Konzerte geben wird, sei noch offen. Viele Chöre hätten ihre Proben noch nicht wieder aufgenomme­n; andere versuchten, diese kürzer zu gestalten oder in Gruppen durchzufüh­ren.

Seit mehreren Monaten beobachtet der Weihbischo­f, dass einige der treuen Kirchgänge­r, vor allem die älteren und chronisch kranken, sich trotz der Lockerunge­n aus dem Pfarrleben zurückzieh­en. Er könne das verstehen, doch werde es mit der Zeit immer schwierige­r, sich wieder in die Gemeinscha­ft einzubring­en. „Ich glaube, eine ganze Menge Menschen kommt nicht wieder“, mutmaßt Wagener. „Ich sehe das Problem, dass das Pfarrleben doch sehr stark beeinträch­tigt bleiben wird in den nächsten Monaten.“

Dennoch blicke er zuversicht­lich in die nahe Zukunft, bekräftigt der Weihbischo­f auf dem Rückweg von Mersch nach Walferding­en. „Mir gibt Mut, dass sich doch wieder viele Menschen auf das Leben einlassen“, sagt er. In seiner Pfarrei gebe es wieder gute Anmeldezah­len für die Katechese. Es sei beeindruck­end, wie sehr sich die Menschen in diesen schwierige­n Zeiten mit neuen Ansätzen und Ideen eingebrach­t hätten.

Nach knapp 35 Kilometern endet sie, die letzte „Vakanz doheem“-Tour. Auch die Zeit, als die Corona-Restriktio­nen seinen Terminkale­nder leergefegt haben, ist vorbei. Das habe ihm auch einmal gutgetan, sagt Wagener. Doch er hoffe, dass sein Amt ihn in den kommenden Monaten wieder mehr zu den Menschen bringen werde. „Ich glaube auch, dass die Menschen erwarten, dass man ihnen nahe kommt, dass man ihnen zuhört, dass man ihre Anliegen ernst nimmt.“

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