Seelsorger auf zwei Rädern
Weihbischof Leo Wagener hat im Corona-Jahr „Vakanz doheem“gemacht
Die Überraschung steht Dechant Félix Steichen ins Gesicht geschrieben, als er die Tür aufmacht. Ja, er hat richtig gehört: „Ech sinn et, de Leo“, hatte sein unvermuteter Besucher beim Klingeln gerufen. Und tatsächlich, da steht der Weihbischof vor dem Pfarrhaus – aber nicht im Bischofsgewand, sondern in langer Funktionshose, Poloshirt und mit Fahrradhelm auf dem Kopf. Mit dem Ellenbogencheck begrüßen sich die beiden Geistlichen, sie fachsimpeln ein bisschen über das flotte schwarze E-Bike Leo Wageners, lachen miteinander und verabschieden sich dann. Für Félix Steichen ist es eine willkommene Abwechslung von der Schreibtischarbeit – und für Leo Wagener ein angenehmer Zwischenstopp bei seiner letzten „Vakanz doheem“-Tour.
So wie Leo Wagener an diesem sonnigen Septembervormittag seinen Kollegen überrascht, haben die vergangenen 365 Tage einiges an Unerwartetem für ihn selbst bereitgehalten. Es begann mit einer unerwarteten Wendung in seinem Lebenslauf: Vor genau einem Jahr, am 29. September 2019, ist Wagener in der Luxemburger Kathedrale zum Bischof geweiht worden. Zusätzlich zu dem Amt des Generalvikars, das er sich seitdem mit Patrick Muller teilt und bei dem das Hauptaugenmerk auf der Verwaltung liegt, ist er nun auch Oberhirte. Als Weihbischof unterstützt er den Erzbischof, der seit seiner Erhebung zum Kardinal noch öfter in Rom ist als zuvor.
Mehr als nur der Stellvertreter des Erzbischofs
Die französische Bezeichnung évêque auxiliaire verdeutlicht besser als das deutsche Wort, worum es geht: Wagener soll dem Bischof bei der Leitung der Erzdiözese helfen. Das Führungstrio Hollerich-Wagener-Muller funktioniere gut, sagt der Weihbischof: „Wir verstehen uns menschlich und beruflich sehr, sehr gut, wir haben ein Vertrauensklima.“Wagener freut sich, dass der Kardinal ihn nicht nur als Stellvertreter einsetzt, wenn er selbst gerade verhindert ist; „ihm ist es wichtig, dass ich als Weihbischof auch Akzente setzen soll.“
In den ersten Amtsmonaten war Wageners Terminkalender denn auch stets gefüllt. Doch in den Corona-Monaten fielen Firmungen, Pfarrbesuche, Veranstaltungen und andere Aufgaben, die ein Bischof üblicherweise wahrnimmt, fast vollständig weg. Jetzt werden wieder mehr Firmungen angefragt; mit der Rentrée kehrt die Routine Schritt für Schritt zurück.
Die zweite Überraschung war unlängst die große Resonanz der Menschen auf seine Facebook-Beiträge unter dem Motto „#vakanzdoheem“.
Seit 2012 ist Wagener mit einem privaten Profil in dem Netzwerk vertreten; in den persönlichen Angaben heißt es: „Arbeitet bei Kathoulesch Kierch – Église Catholique à Luxembourg“. Immer wieder postet er persönliche Gedanken, veröffentlicht Fotos aus seinem Alltag, teilt Beiträge über Gott und die Welt. Und mit seinen 2 369 sogenannten „Freunden“, wie Facebook die miteinander vernetzten Profile bezeichnet, teilt er in diesem Sommer auch seine Fotos und Impressionen vom Sommerurlaub 2020, der unter dem Motto „vakanzdoheem“steht. „Eist schéint Ländchen mam Velo entdeckt! Dës Kéier de Nord-Westen“, schreibt er etwa.
Zum Abschluss seiner persönlichen Sommerreihe unternimmt er eine Radtour mit dem „Luxemburger Wort“, das mit diesem Beitrag seinerseits die Serie „Unterwegs mit...“beendet. Von seinem Wohnort Walferdingen aus geht es zunächst auf der viel befahrenen N7 bis Heisdorf. Einen Radweg gibt es dort nicht; viele Menschen würden sich in dieser fahrradfeindlichen Umgebung nicht wohlfühlen. Doch Wagener lässt sich vom Verkehr nicht beeindrucken. Stoisch kämpft er sich bis nach Heisdorf durch. Von dort aus wird es auf der wenig befahrenen Straße nach Asselscheuer deutlich ruhiger. Dafür geht es kontinuierlich bergauf, von 230 auf 400 Meter über Null.
Urlaub zu Hause, um erreichbar zu sein
Raus aus der Zivilisation, hinein in die Natur – das ist es, was Wagener in den warmen Monaten so oft es geht gemacht hat; dann hat er sich nach Feierabend sein Rad geschnappt und noch eine Stunde gestrampelt. Die Motorunterstützung ermöglicht es ihm, das schwierige Terrain zu meistern. Um sportliche Herausforderungen geht es Wagener nicht; er will in erster Linie abschalten, will den Kopf freibekommen.
Das war auch das Ziel bei seiner „Vakanz doheem“-Reihe, die zwar so klingt, als habe er sie genau für das Corona-Jahr erfunden, die tatsächlich aber einem Zufall entsprungen ist: Als der Generalvikar im Sommer einen Monat Exerzitien machte und der Kardinal
mit den jungen Kaplänen unterwegs war, entschied sich Wagener, im Land zu bleiben, um im Zweifel schnell reagieren zu können.
Seine Tagesausflüge in alle Ecken des Großherzogtums – meist mit dem Rad, aber auch mal zu Fuß und mit einer Pferdekutsche – plante er grob vor. „Ich habe auch mal Umwege zu Dörfern gemacht“, blickt Wagener zurück auf diese Tage, an denen er frei von Terminzwängen war. „Ich habe mir viel Zeit gelassen. Mir ging es nicht um Kilometer, sondern darum, sagen zu können: Heute habe ich einen sehr schönen Tag.“
Schon bald stellte Wagener fest, dass er außer einem Brötchen und ausreichend Wasser nicht viel brauchte. „Ich habe gelebt von der Schönheit der Natur, die ich viel bewusster wahrgenommen habe.“So sei ihm die ganz unterschiedliche Architektur etwa zwischen den typischen Winzerdörfern an der Mosel und den Bauernhäusern im Norden deutlich geworden. „Ich habe das Auge geschärft für Details. Ich bin in Kirchen gegangen. Manchmal war ich traurig, weil sie geschlossen waren. Manchmal waren sie offen und ich konnte dort beten.“
Und immer, wenn er unterwegs war, überlegte er sich, ob es auf dem Weg nicht einen Priester gebe, den er besuchen könnte. „Sie waren etwas verwundert, wenn ich in kurzer Hose und mit dem Rad vor der Tür stand. Da haben sich auch sehr schöne Gespräche entwickelt.“Gute Gespräche ergaben sich auch auf Facebook, wo die Bilder und Eindrücke seiner Touren manchmal mehr als 250 positive Reaktionen bekamen. Er sei auch oft darauf angesprochen worden, berichtet er. Ein Angehöriger seiner Pfarrei schrieb ihm etwa: „Herr Pfarrer, ich habe Sie immer verfolgt. Wann können wir die Sechswochenmesse für meine Frau machen?“
Mir geht es nicht um Kilometer, sondern darum, sagen zu können: Heute habe ich einen sehr schönen Tag. Weihbischof Leo Wagener
Seelsorge vor Ort bleibt ein Herzensanliegen
Denn auch als Weihbischof tauft Wagener, so oft es ihm möglich ist, Kinder, feiert Sonntagsmessen, beerdigt Gläubige. Das sei ihm sehr wichtig, betont er nach der flotten Abfahrt in Richtung Lorentzweiler, als es in gemächlichem Tempo über den Radweg nach Mersch geht. „Meine Grundentscheidung war es, Seelsorger zu werden“, sagt er. Zwar kamen mit den Jahren, vor allem seit der Ernennung zum Generalvikar 2015, immer mehr Führungsaufgaben hinzu, doch den Bezug zur Pastoral wollte er sich bewahren. „Das ist mein Leben mit den Menschen; ich wollte nicht einfach nur in der Schreibstube verharren.“
In seiner Pfarrei Steesel-Walfer Sainte-Trinité arbeitet er unter
Weihbischof Leo Wagener (links) hat zum Abschluss der Reihe „Unterwegs mit ...“eine Radtour mit LWRedakteur Michael Merten gemacht. einem leitenden Pfarrer. „Von daher weiß ich, glaube ich, wie Pastoral läuft, wo die Schwierigkeiten sind“, sagt der Geistliche. Schon in seiner Kindheit wurde der am 12. April 1962 in Ettelbrück geborene Wagener von Geistlichen geprägt, die ein modernes Priesterbild lebten. Seine Heimatpfarrei Hoscheid gehörte zu einem Pfarrverband, der von einem Team aus zwei Priestern geleitet wurde, die die Laien vor Ort bewusst förderten; es habe viele engagierte Gläubige und zahlreiche Aktivitäten gegeben.
Wenn er über diese beiden Priester seiner Kindheit spricht, dann klingt das genau so, wie viele luxemburgische Gläubige ihren Weihbischof beschreiben: „Be
scheiden, sehr nahe bei den Leuten, sehr volksnah“. In seiner Abiturzeit reifte in ihm der Gedanke, selbst Priester zu werden. „Ich war immer ein gläubiger Jugendlicher, aber ich hätte mir viele Berufe vorstellen können“, blickt Wagener zurück. „Damals hatte ich ein inneres, spirituelles Erlebnis, das ich so gedeutet habe, dass es ein sehr persönlicher Ruf an mich ist, Priester zu werden.“ bitte werde ein guter Priester.“Doch was macht einen solchen guten Priester aus? Wagener überlegt lange, bevor er antwortet: „Für mich gehört dazu, dass man wirklich zu seinem Wort steht, dass man die Beziehung zu Jesus lebt und die Liebe zu den Menschen. Das ist für mich schon wesentlich.“Er habe sich fest vorge
Mir gibt Mut, dass sich doch wieder viele Menschen auf das Leben einlassen. Weihbischof Leo Wagener
nommen, diese Lebensentscheidung für seine Berufung auch in schwierigen Lebensabschnitten aufrechtzuerhalten.
Was viele Gläubige in dieser Zeit umtreibe, sei die Frage, wie es nach den ersten Lockerungen mit dem Pfarrleben weitergehe: „Wir sind noch längst nicht dabei, dass es wieder normale Treffen gibt“, sagt Wagener. Die Frage, ob es in der Weihnachtszeit Konzerte geben wird, sei noch offen. Viele Chöre hätten ihre Proben noch nicht wieder aufgenommen; andere versuchten, diese kürzer zu gestalten oder in Gruppen durchzuführen.
Seit mehreren Monaten beobachtet der Weihbischof, dass einige der treuen Kirchgänger, vor allem die älteren und chronisch kranken, sich trotz der Lockerungen aus dem Pfarrleben zurückziehen. Er könne das verstehen, doch werde es mit der Zeit immer schwieriger, sich wieder in die Gemeinschaft einzubringen. „Ich glaube, eine ganze Menge Menschen kommt nicht wieder“, mutmaßt Wagener. „Ich sehe das Problem, dass das Pfarrleben doch sehr stark beeinträchtigt bleiben wird in den nächsten Monaten.“
Dennoch blicke er zuversichtlich in die nahe Zukunft, bekräftigt der Weihbischof auf dem Rückweg von Mersch nach Walferdingen. „Mir gibt Mut, dass sich doch wieder viele Menschen auf das Leben einlassen“, sagt er. In seiner Pfarrei gebe es wieder gute Anmeldezahlen für die Katechese. Es sei beeindruckend, wie sehr sich die Menschen in diesen schwierigen Zeiten mit neuen Ansätzen und Ideen eingebracht hätten.
Nach knapp 35 Kilometern endet sie, die letzte „Vakanz doheem“-Tour. Auch die Zeit, als die Corona-Restriktionen seinen Terminkalender leergefegt haben, ist vorbei. Das habe ihm auch einmal gutgetan, sagt Wagener. Doch er hoffe, dass sein Amt ihn in den kommenden Monaten wieder mehr zu den Menschen bringen werde. „Ich glaube auch, dass die Menschen erwarten, dass man ihnen nahe kommt, dass man ihnen zuhört, dass man ihre Anliegen ernst nimmt.“