Die neue Todsünde
Es beginnt ganz harmlos: ein leichtes Kratzen im Rachen. Vielleicht ein Krümelchen vom Baguette vorhin? Ein Schluck Wasser – und es ist gut. Falsch gedacht, der Reiz irgendwo jenseits des Gaumenzäpfchens lässt nicht nach. Es juckt immer mehr. Aber darf man in Corona-Zeiten noch in Gegenwart anderer Menschen husten? Ich blicke einmal kurz durch den Speisesaal im Restaurant, jeder ist in Gespräche oder den eigenen Teller vertieft. Ein kleines Räuspern dürfte niemandem auffallen und mir trotzdem Erlösung bringen. Schon wieder falsch gedacht, am Nachbartisch hat die ältere Dame ihre Gabel niedergelegt. Sie mustert mich mit strengem Blick. Als ich entschuldigend zu ihr rüber sehe,
Darf man in Corona-Zeiten überhaupt noch husten?
wird ihre Miene giftig. Doch damit nicht genug. Mein kleiner Räusperer hat das Kratzen im Hals nur verschlimmert. Ich muss jetzt richtig husten, und zwar sehr bald. Okay, sage ich mir. Wenn, dann in den Ellbogen. Rechts sitzt die Dame mit dem maßregelnden Blick, also schaue ich nach links. Dort löffelt ein Paar gerade seine Suppe. Es sind sicher keine zwei Meter bis zu ihrem Tisch. Ellbogen hin oder her, mir würde es nicht gefallen, im Restaurant von irgendeinem Fremden angehustet zu werden. Vorsichtshalber ziehe ich mir die Serviette vom Schoß und halte sie vor den Mund. Die Dame rechts scheint mittlerweile regelrecht entrüstet. Mit der anderen Hand fische ich die Maske aus meinem Sakko und halte nach dem kürzesten Fluchtweg Ausschau. Das WC liegt ganz hinten im Restaurant. Ein schlechter Plan. Also die
Tür nach draußen. Das klappt, mit Maske auf der Nase und Serviette in der Hand stürze ich an meiner verdutzten Partnerin vorbei, schlüpfe durch die Eingangstür und reiße mir den Mundschutz herunter. Ich schnappe nach Luft und huste, was das Zeug hält. Und während ich noch dem mickrigen Brotkrumen zusehe, wie dieser in hohem Bogen durch die Luft fliegt, erblicke ich eine Frau, die vor Schreck ihre Einkaufstasche fallen lässt. Na, das hab ich ja wieder toll hingekriegt! Steve