„Es geht jetzt um die Existenz von Armenien“
Der armenische Journalist Sarkis Balkhian über den Krieg in Berg-Karabach und die Rolle der Türkei, Russlands und des Iran
Der Journalist Sarkis Balkhian, 39, arbeitet für „Human Rights Watch“, diverse UN-Organisationen und leitet die „Aleppo-NGO“, die die Integration von armenischen Flüchtlingen aus Syrien und dem Libanon in Armenien fördert. Balkhian lebt in der armenischen Hauptstadt Eriwan.
Sarkis Balkhian, wie würden Sie nach fünf Tagen Krieg in Berg-Karabach die Stimmung in der Hauptstadt Eriwan beschreiben?
Die Menschen fürchten sich nicht. Angespannt ist die Stimmung aber trotzdem. Schließlich sind bereits fast 90 Menschen, unter ihnen auch einige Zivilisten, ums Leben gekommen. Die Bevölkerung
Der armenische Journalist Sarkis Balkhian
ist nicht bereit, den hohen Blutzoll hinzunehmen. Tausende von Freiwilligen sind auf dem Weg nach Berg-Karabach, unter ihnen sogar 80-Jährige mit Jagdflinten.
Motivationsprobleme gibt es also nicht?
Im Gegenteil. Wir kennen unseren Feind ganz genau: Das ist nicht nur Aserbaidschan, sondern vor allem die Türkei. Über 800 Jahre lebten Armenier unter osmanischer Herrschaft. Über zwei Millionen Armenier wurden in dieser Zeit ermordet, zuletzt von 1915 bis 1922, als die Jungtürken die sogenannte „Endlösung“anstrebten. Das soll sich nicht noch einmal wiederholen.
Ist der Vergleich nicht zu hoch gegriffen?
Überhaupt nicht. Wir wissen, dass wir uns in diesem Konflikt nicht, wie von Baku und Ankara verlangt, ergeben können. Aserbaidschaner und Türken würden uns in diesem Fall erneut wie Schafe abschlachten. Für uns geht es um alles, um nichts Geringeres als die Existenz von Armenien als Heimstätte des armenischen Volkes, wo wir in Frieden leben wollen.
Sie betrachten nicht nur Aserbaidschan, sondern auch die Türkei als Kriegspartei?
Die türkische Luftwaffe hat am Dienstag ein armenisches Kampfflugzeug abgeschossen. Türkische Offiziere beraten die aserbaidschanische Armee in Berg-Karabach. Überdies hat Erdogan 4 000 syrische Söldner mit islamischdschihadistischem Hintergrund nach Baku bringen lassen. In den Augen dieser Leute sind wir Armenier Ungläubige, die liquidiert werden müssen.
Armenien wird in diesem Konflikt nur von Russland unterstützt. Wie hoch ist das Vertrauen in Präsident Wladimir Putin?
Russland ist unser strategischer Verbündeter. Das entsprechende Abkommen beschränkt sich auf das Staatsgebiet von Armenien, aber nicht auf Berg-Karabach. Russland verhielt sich in dem Konflikt bisher neutral; allerdings wurde am Dienstag auch die Republik Armenien direkt angegriffen, ohne dass sich Putin gerührt hätte. Wir hoffen, dass sich dies bald ändert.
Wie verhält sich Georgien?
Bedauerlicherweise hat Georgien sein Territorium sowie auch seinen Luftraum für russische Waffenlieferungen gesperrt. Das bedeutet nichts anderes, dass Tiflis in diesem Konflikt die Türken unterstützt. Was uns bleibt, ist die Unterstützung von Iran.
Auch Militärhilfe?
Wir dürfen russische Waffen sowie humanitäre Güter über iranisches Territorium nach Armenien bringen. Auch russische Militärtransporter fliegen wegen der Sperrung des georgischen Luftraums über Iran zu ihren Stützpunkten in Westarmenien. Armenien hat die internationalen Sanktionen gegen Iran niemals unterstützt. Diese Haltung zahlt sich jetzt aus.
Iran meldete gestern den Abschuss einer aserbaidschanischen Drohne. Droht der Konflikt auch auf Iran überzugreifen?
In der Nacht zum Mittwoch haben Agenten des Regimes in Baku einen iranischen Lastwagen mit Militärgütern für Armenien in der nordiranischen Provinz Ost-Aserbaidschan angegriffen und angezündet. Die Bilder wurden jetzt ins Internet gestellt.
Wie reagiert die armenische Diaspora auf den wachsenden Druck?
Fantastisch. Auf den zur Unterstützung von Berg-Karabach eingerichteten Spendenkonten sind in den letzten Tagen mehr als acht Millionen Dollar eingegangen. Auch die großen armenischen Gemeinden in Russland, Frankreich und den USA haben Millionenbeträge zugesagt. Darüber hinaus mobilisieren prominente Armenier, wie unser SocialMedia-Sternchen Kim Kardashian, die Weltöffentlichkeit. Wenn die Aserbaidschaner mit ihren Angriffen eines erreicht haben, dann ist es die Wiederherstellung der armenischen Einheit.
Das war nicht immer so?
(lacht) Vor zwei Jahren wurde in Eriwan die Regierung durch eine friedliche Revolution gestürzt. Die Folge waren massive innenpolitische Spannungen, von denen jetzt nichts mehr zu spüren ist. Das ganze Land steht hinter Ministerpräsident Nikol Paschinjan und der Armee.