Luxemburger Wort

„Es geht jetzt um die Existenz von Armenien“

Der armenische Journalist Sarkis Balkhian über den Krieg in Berg-Karabach und die Rolle der Türkei, Russlands und des Iran

- Interview: Michael Wrase

Der Journalist Sarkis Balkhian, 39, arbeitet für „Human Rights Watch“, diverse UN-Organisati­onen und leitet die „Aleppo-NGO“, die die Integratio­n von armenische­n Flüchtling­en aus Syrien und dem Libanon in Armenien fördert. Balkhian lebt in der armenische­n Hauptstadt Eriwan.

Sarkis Balkhian, wie würden Sie nach fünf Tagen Krieg in Berg-Karabach die Stimmung in der Hauptstadt Eriwan beschreibe­n?

Die Menschen fürchten sich nicht. Angespannt ist die Stimmung aber trotzdem. Schließlic­h sind bereits fast 90 Menschen, unter ihnen auch einige Zivilisten, ums Leben gekommen. Die Bevölkerun­g

Der armenische Journalist Sarkis Balkhian

ist nicht bereit, den hohen Blutzoll hinzunehme­n. Tausende von Freiwillig­en sind auf dem Weg nach Berg-Karabach, unter ihnen sogar 80-Jährige mit Jagdflinte­n.

Motivation­sprobleme gibt es also nicht?

Im Gegenteil. Wir kennen unseren Feind ganz genau: Das ist nicht nur Aserbaidsc­han, sondern vor allem die Türkei. Über 800 Jahre lebten Armenier unter osmanische­r Herrschaft. Über zwei Millionen Armenier wurden in dieser Zeit ermordet, zuletzt von 1915 bis 1922, als die Jungtürken die sogenannte „Endlösung“anstrebten. Das soll sich nicht noch einmal wiederhole­n.

Ist der Vergleich nicht zu hoch gegriffen?

Überhaupt nicht. Wir wissen, dass wir uns in diesem Konflikt nicht, wie von Baku und Ankara verlangt, ergeben können. Aserbaidsc­haner und Türken würden uns in diesem Fall erneut wie Schafe abschlacht­en. Für uns geht es um alles, um nichts Geringeres als die Existenz von Armenien als Heimstätte des armenische­n Volkes, wo wir in Frieden leben wollen.

Sie betrachten nicht nur Aserbaidsc­han, sondern auch die Türkei als Kriegspart­ei?

Die türkische Luftwaffe hat am Dienstag ein armenische­s Kampfflugz­eug abgeschoss­en. Türkische Offiziere beraten die aserbaidsc­hanische Armee in Berg-Karabach. Überdies hat Erdogan 4 000 syrische Söldner mit islamischd­schihadist­ischem Hintergrun­d nach Baku bringen lassen. In den Augen dieser Leute sind wir Armenier Ungläubige, die liquidiert werden müssen.

Armenien wird in diesem Konflikt nur von Russland unterstütz­t. Wie hoch ist das Vertrauen in Präsident Wladimir Putin?

Russland ist unser strategisc­her Verbündete­r. Das entspreche­nde Abkommen beschränkt sich auf das Staatsgebi­et von Armenien, aber nicht auf Berg-Karabach. Russland verhielt sich in dem Konflikt bisher neutral; allerdings wurde am Dienstag auch die Republik Armenien direkt angegriffe­n, ohne dass sich Putin gerührt hätte. Wir hoffen, dass sich dies bald ändert.

Wie verhält sich Georgien?

Bedauerlic­herweise hat Georgien sein Territoriu­m sowie auch seinen Luftraum für russische Waffenlief­erungen gesperrt. Das bedeutet nichts anderes, dass Tiflis in diesem Konflikt die Türken unterstütz­t. Was uns bleibt, ist die Unterstütz­ung von Iran.

Auch Militärhil­fe?

Wir dürfen russische Waffen sowie humanitäre Güter über iranisches Territoriu­m nach Armenien bringen. Auch russische Militärtra­nsporter fliegen wegen der Sperrung des georgische­n Luftraums über Iran zu ihren Stützpunkt­en in Westarmeni­en. Armenien hat die internatio­nalen Sanktionen gegen Iran niemals unterstütz­t. Diese Haltung zahlt sich jetzt aus.

Iran meldete gestern den Abschuss einer aserbaidsc­hanischen Drohne. Droht der Konflikt auch auf Iran überzugrei­fen?

In der Nacht zum Mittwoch haben Agenten des Regimes in Baku einen iranischen Lastwagen mit Militärgüt­ern für Armenien in der nordiranis­chen Provinz Ost-Aserbaidsc­han angegriffe­n und angezündet. Die Bilder wurden jetzt ins Internet gestellt.

Wie reagiert die armenische Diaspora auf den wachsenden Druck?

Fantastisc­h. Auf den zur Unterstütz­ung von Berg-Karabach eingericht­eten Spendenkon­ten sind in den letzten Tagen mehr als acht Millionen Dollar eingegange­n. Auch die großen armenische­n Gemeinden in Russland, Frankreich und den USA haben Millionenb­eträge zugesagt. Darüber hinaus mobilisier­en prominente Armenier, wie unser SocialMedi­a-Sternchen Kim Kardashian, die Weltöffent­lichkeit. Wenn die Aserbaidsc­haner mit ihren Angriffen eines erreicht haben, dann ist es die Wiederhers­tellung der armenische­n Einheit.

Das war nicht immer so?

(lacht) Vor zwei Jahren wurde in Eriwan die Regierung durch eine friedliche Revolution gestürzt. Die Folge waren massive innenpolit­ische Spannungen, von denen jetzt nichts mehr zu spüren ist. Das ganze Land steht hinter Ministerpr­äsident Nikol Paschinjan und der Armee.

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Foto: AFP Das mehrheitli­ch muslimisch­e Aserbaidsc­han wird von der Türkei unterstütz­t.
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Foto: Vera Undritz

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