Luxemburger Wort

Die Werkbank der Welt war gestern

Chinas Wirtschaft vollzieht einen grundlegen­den Richtungsw­echsel

- Von Fabian Kretschmer (Peking)

Quasi über Nacht machten die Planierrau­pen und Abrissbirn­en im August das Arbeiterst­adion im Stadtzentr­um Pekings dem Erdboden gleich: Wo früher der sozialisti­sche Prachtbau mit 64 000 Zuschauerr­ängen stand, werken nun Tag und Nacht Dutzende Arbeiter, um ein neues hochmodern­es Fußballsta­dion zu errichten. In rund zwei Jahren soll es fertig sein, rechtzeiti­g für die Asienmeist­erschaft. Im Corona-Jahr beweist das Großbaupro­jekt: Die chinesisch­e Botschaft brummt wieder, fast wie zu alten Zeiten.

Dies legen auch die neuesten Zahlen der nationalen Statistikb­ehörde vom Mittwoch nahe: Der offizielle Einkaufsma­nager-Index für das verarbeite­nde Gewerbe stieg von 51,0 im August auf stolze 51,5 im September an. Damit liegt der Wert nicht nur über dem Grenzwert von 50, der positives Wachstum ausdrückt, sondern auch deutlich über den Prognosen der meisten Ökonomen.

Neue Regeln in Peking

Auch für den Rest der Welt sind dies gute Nachrichte­n, profitiert doch insbesonde­re Europa von einem stabilen Wirtschaft­swachstum Chinas. Und dennoch sorgen sich heimische Unternehme­n, dass in Peking bald andere Spielregel­n gelten können.

Im Mai nämlich hat die Staatsführ­ung ein neues Konzept unter dem Schlagwort „Dual Circulatio­n“vorgestell­t. Zwar blieb Präsident Xi Jinping bislang Details schuldig, doch grob ausgedrück­t geht es bei dem Schlagwort darum, die Wirtschaft in zwei Kreisläufe einzuteile­n: ein innerer, der vom Binnenkons­um getrieben wird, und ein äußerer, der von Exporten und Importen abhängt. Künftig wolle sich die Volksrepub­lik vor allem auf den heimischen Markt fokussiere­n. Letztendli­ch kann dies als Schutzmaßn­ahme gegen Amerikas Handelskri­eg unter Donald Trump interpreti­ert werden. China versucht, seine Abhängigke­it

von Technologi­eimporten zu senken und diese künftig selber zu produziere­n. Für europäisch­e Zulieferer sind dies keine guten Nachrichte­n.

„Mittlerwei­le hat unsere Wirtschaft andere Vorteile als noch vor zehn Jahren. Es ist nicht mehr so, dass wir nur über günstige Arbeitskrä­fte verfügen“, sagt Yao Jingyuan, ehemaliger Chef-Ökonom des nationalen Statistikb­üros: „Über 400 Millionen Chinesen gehören der Mittelschi­cht an, das sind mehr als in den USA und Japan zusammen“. Anders ausgedrück­t: China verfügt über einen Markt, der sich zunehmend selbst genügt.

Bisher litt die chinesisch­e Wirtschaft jedoch darunter, dass der durchschni­ttliche Bürger sein Geld vornehmlic­h sparte, anstatt es auszugeben. Das hat zum einen mit dem lediglich rudimentär­em Gesundheit­sund Sozialsyst­em zu tun, zum anderen weil die Löhne schlicht zu niedrig sind. Noch immer leben 600 Millionen Chinesen von weniger als 1 000 Yuan im Monat – umgerechne­t 125 Euro. Gleichzeit­ig gibt es nach wie vor eine starke Einkommens­schere: Die urbanen Städter der Ostküste verdienen im Schnitt fast dreimal so viel wie die Landbewohn­er in den Provinzen.

Neuer Fünfjahres­plan

„Es ist wichtig, mehr Geld in die Taschen des Volks fließen zu lassen“, sagt Yao. Dafür brauche es vor allem Reformen, etwa durch Sonderwirt­schaftszon­en und Marktöffnu­ngen. Doch gleichzeit­ig stellt der Wirtschaft­sexperte auch eine kritische Forderung an die eigene Regierung: „Erst wenn die Regierung künftig mit einem schmalen Haushalt auskommt, landet mehr bei den Leuten. Das bedeutet, dass die Regierung seine eigenen Interessen beschneide­n muss“. Bislang jedoch hat die Regierung im Zuge der Corona-bedingten Wirtschaft­skrise gegenteili­g gehandelt: Um kurzfristi­g Arbeitsplä­tze im Niedrigloh­nsektor zu sichern, investiert­e sie vornehmlic­h in Infrastruk­tur oder Bauprojekt­e, wie etwa auch die Errichtung eines neuen Fußballsta­dions in Peking. Davon profitiere­n vor allem die Staatsunte­rnehmen, mittelstän­dische Betriebe der Privatwirt­schaft haben meist das Nachsehen. Laut chinesisch­en Ökonomen sei dies in die richtige Strategie für Krisenzeit­en, doch langfristi­g müsse ein Kurswechse­l hin zur wirtschaft­lichen Öffnung erfolgen. In wenigen Wochen schließlic­h wird die Kommunisti­sche Partei ihren neuen Fünfjahres­plan vorstellen, in dem auch die konkreten Wirtschaft­sziele definiert sind. Erst dann lässt sich nachprüfen, wie ernst es die Regierung unter Xi Jinping mit ihren Bestrebung­en zu weiteren Marktrefor­men meint.

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Foto: AFP Die chinesisch­e Wirtschaft könnte sich bald stärker am heimischen Konsum ausrichten.

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