Flucht mit Risiko
Die Entscheidung für Haft in Spanien könnte für Jean-Marc Sirichai Kiesch von Nachteil sein
Luxemburg. Die Entscheidung des spanischen Gerichtshofs, den geflüchteten Gewalttäter Jean-Marc Sirichai Kiesch nicht nach Luxemburg auszuliefern, hatte jüngst in Luxemburg hohe Wellen geschlagen (das LW berichtete).
Kiesch war im Jahr 2000 wegen Totschlags zu 20 Jahren Haft, davon fünf auf Bewährung, verurteilt worden. Nach einem Hafturlaub im Jahr 2004 war er untergetaucht – und erst im August 2020 in Spanien festgenommen worden, wo er seit Jahren gelebt und eine Familie gegründet hatte.
Nach der Abfuhr durch das spanische Gericht blieb der Luxemburger Justiz nichts anderes übrig, als zu beantragen, dass Kiesch seine Reststrafe von etwas weniger als neun Jahren in einer spanischen Haftanstalt verbüßen soll. Es ist nämlich so, dass EU-Länder 2008 ein Abkommen unterzeichnet haben, in dem sie sich verpflichten, Gerichtsurteile von anderen Mitgliedsstaaten anzuerkennen. Doch wie das vonstattengeht, hängt von vielen Faktoren ab – und der Ausgang ist nicht zwangsläufig vorteilhaft für Kiesch.
„Keine ungewöhnliche Entscheidung“
„Die Entscheidung, die Person nicht nach Luxemburg auszuliefern, ist alles andere als ungewöhnlich“, erklärt Luis Chabaneix, in Madrid tätiger Spezialist für Strafrecht, Finanzkriminalität und Auslieferungen, auf Nachfrage dem „Luxemburger Wort“.
„Die Normen des Europäischen Gerichtshofs geben vor, dass die EU ein einheitlicher Raum ist und deswegen nicht mehr die Staatsbürgerschaft ausschlaggebend ist, sondern der Wohnort der betroffenen Person“, so Luis Chabaneix. Deshalb habe ein Straftäter denn auch das Recht, seine Haftstrafe in dem Land zu verbüßen, in dem er lebt.
„Wichtig dabei ist, dass die Regeln, nach denen das geschieht, jene des Landes sind, in dem die Haftstrafe vollzogen wird, nicht jene des Landes, in dem das Urteil gefällt wurde“, fährt der Direktor der Kanzlei Chabaneix fort. Sicher sei auch, dass ein wegen Totschlags Verurteilter in Spanien nicht um den Vollzug der Haftstrafe herumkomme.
„Dass die Tat 20 Jahre zurückliegt, der Beschuldigte eine Familie gegründet hat und seit Jahren in Spanien gelebt hat, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, spielt keine Rolle“, unterstreicht Chabaneix. „Bei einem Totschlag braucht man nicht einmal darüber nachzudenken. Er könnte zwar ein Gnadengesuch stellen, dieses wird ihm aber niemals gewährt werden.“
Ein großer Unterschied zwischen dem spanischen und dem luxemburgischen Strafgesetz ist, dass es in Spanien keine Verurteilung zu einer Haftstrafe mit teilweiser Bewährung gibt. Es gibt entweder eine feste Haftstrafe oder eine Haftstrafe auf Bewährung.
Spanien kennt keine teilweise Bewährung
In der spanischen Rechtspraxis würden die fünf Jahre Haft, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, nicht in Betracht gezogen, so Chabaneix und fährt fort: „20 Jahre Haft sind dann in Spanien im Prinzip auch 20 Jahre im Gefängnis.“
„Vieles wird davon abhängen, welches Dokument die Luxemburger Behörden an die spanische Justiz senden“, betont der Strafrechtler. „Wenn darin steht, er sei zu 20 Jahren verurteilt worden, und habe davon bislang soundsoviele
Tage verbüßt, dann werden die hiesigen Behörden das auch wie eine 20-jährige Gefängnisstrafe behandeln. Wenn sie aber im Dokument nur schreiben, es bleiben 3 275 Tage zu vollstrecken, dann werden sie eben nur diese Angabe in Betracht ziehen.“
Aber wie geht es nun für JeanMarc Kiesch in Spanien weiter? Prinzipiell ist es nach spanischem Recht so, dass ein Verurteilter nach einem Viertel seiner Haftstrafe zum ersten Mal Hafturlaub beantragen darf: eine Woche alle zwei Monate. Für den halboffenen Vollzug gibt es zwar keine Frist, bei einer schweren Straftat wird aber in der Regel frühestens nach der Hälfte der Haftzeit eine Verlegung in den halboffenen Verzug gestattet.
Vorzeitige Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit möglich
Dann kann der Häftling tagsüber außerhalb der Gefängnismauern einer Arbeit nachgehen, muss aber nachts in der Haftanstalt schlafen. Bei guter Führung ist eine vorzeitige Entlassung frühestens nach dem Vollzug von zwei Dritteln der Haftstrafe möglich.
Für Jean-Marc Sirichai Kiesch ergeben sich daraus zwei mögliche Szenarien: Wird die 20-jährige Haftstrafe von den spanischen Behörden zurückbehalten, dann kann er frühestens in acht Jahren entlassen werden, da er dann erst zwei Drittel seiner Gesamtstrafe verbüßt hat. Wird lediglich die verbleibende Haftstrafe übermittelt, erwartet ihn bereits in knapp sechs Jahren ein Leben in Freiheit.
In Luxemburg wäre er womöglich besser davongekommen: Der hierzulande für einen Antrag auf vorzeitige Entlassung erforderliche Vollzug von zwei Dritteln seiner 15-jährigen Haftzeit wäre bereits in fünf Jahren abgeschlossen gewesen.