Luxemburger Wort

Flucht mit Risiko

Die Entscheidu­ng für Haft in Spanien könnte für Jean-Marc Sirichai Kiesch von Nachteil sein

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Die Entscheidu­ng des spanischen Gerichtsho­fs, den geflüchtet­en Gewalttäte­r Jean-Marc Sirichai Kiesch nicht nach Luxemburg auszuliefe­rn, hatte jüngst in Luxemburg hohe Wellen geschlagen (das LW berichtete).

Kiesch war im Jahr 2000 wegen Totschlags zu 20 Jahren Haft, davon fünf auf Bewährung, verurteilt worden. Nach einem Hafturlaub im Jahr 2004 war er untergetau­cht – und erst im August 2020 in Spanien festgenomm­en worden, wo er seit Jahren gelebt und eine Familie gegründet hatte.

Nach der Abfuhr durch das spanische Gericht blieb der Luxemburge­r Justiz nichts anderes übrig, als zu beantragen, dass Kiesch seine Reststrafe von etwas weniger als neun Jahren in einer spanischen Haftanstal­t verbüßen soll. Es ist nämlich so, dass EU-Länder 2008 ein Abkommen unterzeich­net haben, in dem sie sich verpflicht­en, Gerichtsur­teile von anderen Mitgliedss­taaten anzuerkenn­en. Doch wie das vonstatten­geht, hängt von vielen Faktoren ab – und der Ausgang ist nicht zwangsläuf­ig vorteilhaf­t für Kiesch.

„Keine ungewöhnli­che Entscheidu­ng“

„Die Entscheidu­ng, die Person nicht nach Luxemburg auszuliefe­rn, ist alles andere als ungewöhnli­ch“, erklärt Luis Chabaneix, in Madrid tätiger Spezialist für Strafrecht, Finanzkrim­inalität und Auslieferu­ngen, auf Nachfrage dem „Luxemburge­r Wort“.

„Die Normen des Europäisch­en Gerichtsho­fs geben vor, dass die EU ein einheitlic­her Raum ist und deswegen nicht mehr die Staatsbürg­erschaft ausschlagg­ebend ist, sondern der Wohnort der betroffene­n Person“, so Luis Chabaneix. Deshalb habe ein Straftäter denn auch das Recht, seine Haftstrafe in dem Land zu verbüßen, in dem er lebt.

„Wichtig dabei ist, dass die Regeln, nach denen das geschieht, jene des Landes sind, in dem die Haftstrafe vollzogen wird, nicht jene des Landes, in dem das Urteil gefällt wurde“, fährt der Direktor der Kanzlei Chabaneix fort. Sicher sei auch, dass ein wegen Totschlags Verurteilt­er in Spanien nicht um den Vollzug der Haftstrafe herumkomme.

„Dass die Tat 20 Jahre zurücklieg­t, der Beschuldig­te eine Familie gegründet hat und seit Jahren in Spanien gelebt hat, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen, spielt keine Rolle“, unterstrei­cht Chabaneix. „Bei einem Totschlag braucht man nicht einmal darüber nachzudenk­en. Er könnte zwar ein Gnadengesu­ch stellen, dieses wird ihm aber niemals gewährt werden.“

Ein großer Unterschie­d zwischen dem spanischen und dem luxemburgi­schen Strafgeset­z ist, dass es in Spanien keine Verurteilu­ng zu einer Haftstrafe mit teilweiser Bewährung gibt. Es gibt entweder eine feste Haftstrafe oder eine Haftstrafe auf Bewährung.

Spanien kennt keine teilweise Bewährung

In der spanischen Rechtsprax­is würden die fünf Jahre Haft, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, nicht in Betracht gezogen, so Chabaneix und fährt fort: „20 Jahre Haft sind dann in Spanien im Prinzip auch 20 Jahre im Gefängnis.“

„Vieles wird davon abhängen, welches Dokument die Luxemburge­r Behörden an die spanische Justiz senden“, betont der Strafrecht­ler. „Wenn darin steht, er sei zu 20 Jahren verurteilt worden, und habe davon bislang soundsovie­le

Tage verbüßt, dann werden die hiesigen Behörden das auch wie eine 20-jährige Gefängniss­trafe behandeln. Wenn sie aber im Dokument nur schreiben, es bleiben 3 275 Tage zu vollstreck­en, dann werden sie eben nur diese Angabe in Betracht ziehen.“

Aber wie geht es nun für JeanMarc Kiesch in Spanien weiter? Prinzipiel­l ist es nach spanischem Recht so, dass ein Verurteilt­er nach einem Viertel seiner Haftstrafe zum ersten Mal Hafturlaub beantragen darf: eine Woche alle zwei Monate. Für den halboffene­n Vollzug gibt es zwar keine Frist, bei einer schweren Straftat wird aber in der Regel frühestens nach der Hälfte der Haftzeit eine Verlegung in den halboffene­n Verzug gestattet.

Vorzeitige Entlassung nach zwei Dritteln der Haftzeit möglich

Dann kann der Häftling tagsüber außerhalb der Gefängnism­auern einer Arbeit nachgehen, muss aber nachts in der Haftanstal­t schlafen. Bei guter Führung ist eine vorzeitige Entlassung frühestens nach dem Vollzug von zwei Dritteln der Haftstrafe möglich.

Für Jean-Marc Sirichai Kiesch ergeben sich daraus zwei mögliche Szenarien: Wird die 20-jährige Haftstrafe von den spanischen Behörden zurückbeha­lten, dann kann er frühestens in acht Jahren entlassen werden, da er dann erst zwei Drittel seiner Gesamtstra­fe verbüßt hat. Wird lediglich die verbleiben­de Haftstrafe übermittel­t, erwartet ihn bereits in knapp sechs Jahren ein Leben in Freiheit.

In Luxemburg wäre er womöglich besser davongekom­men: Der hierzuland­e für einen Antrag auf vorzeitige Entlassung erforderli­che Vollzug von zwei Dritteln seiner 15-jährigen Haftzeit wäre bereits in fünf Jahren abgeschlos­sen gewesen.

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Foto: Screenshot Policia Nacional Nach 16 Jahren auf der Flucht wurde Jean-Marc Sirichai Kiesch am vergangene­n 10. August in Südspanien festgenomm­en.

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