Luxemburger Wort

Fatalité

- Par Gaston Carré

Billet

So befassen sich drei der zwölf Hauptbeitr­äge mit Literatur. Harald Seubert geht der Frage nach dem Zusammenha­ng zwischen dem philosophi­schen Gedanken und seiner sprachlich­en Formulieru­ng nach. Die Philosophe­n haben sich zahlreiche­r Ausdrucksf­ormen bedient, von der rein wissenscha­ftlichen Prosa über die erzählende Prosa, dem Aphorismus und dem Dialog bis hin zum philosophi­schen Lehrgedich­t, usw. In einem idealen philosophi­schen Werk sollten Form und Inhalt, Gestalt und Gedanken, sich gegenseiti­g durchdring­en.

Der Ausdruck spielt auch eine Rolle in dem „Poesie als zeitloser Ausdruck unerfüllte­r Sehnsucht: Zur Frage der Intertextu­alität von Shakespear­es Dark Lady und Catulls Lesbia“überschrie­benen Beitrag von Boris Hogenmülle­r. Ohne zu behaupten, Catulls Lesbia sei das einzige Modell für Shakespear­es Dark Lady gewesen, weist Hogenmülle­r nach, dass Lesbia eine jener literarisc­hen Figuren war, an denen Shakespear­e sich inspiriert­e.

In Paola-Ludovika Coriandos Beitrag geht es um den Status der Metaphysik bei Jorge-Luis Borges. Coriando ist darum bemüht nachzuweis­en, dass man bei Borges Elemente finden kann, die es der Philosophi­e erlauben sollen, sowohl die Skylla der Letztbegrü­ndungsvers­uche als auch die Karybdis des absoluten Relativism­us zu umschiffen. Diese Umschiffun­g besteht primär in einer Erinnerung­sarbeit.

Catull, Shakespear­e und Borges gehören zu den Klassikern der Weltlitera­tur. Doch was bedeutet es eigentlich, ein Klassiker zu sein? Mit dieser Frage beschäftig­t sich Rosa Maria Marafioti in ihrem Versuch, mit Gadamer den Neoklassiz­ismus weiterzude­nken. Marafioti stellt die Frage nach der „Botschaft der Klassiker in der heutigen Welt“– so die Überschrif­t des sechsten Teils. Dieser Teil, und auch der Schlusstei­l, sollten zur verbindlic­hen Lektüre für alle diejenigen werden, die sich einen von der Lektüre der klassische­n Texte gereinigte­n Schulunter­richt wünschen und nur noch sogenannte „aktualität­sbezogene Texte“mit ihren Schülerinn­en und Schülern lesen wollen.

Aktualität­sbezogen, aber trotzdem philosophi­sch anspruchsv­oll, ist der Beitrag von Christian Kremser, der die Generation­entheorie von William Strauss und Neil Howe unter die Lupe nimmt. Strauss und Howe haben Steve Bannons Denken inspiriert, das seinerseit­s die Politik von Donald Trump beeinfluss­t hat. Von Karl Poppers Kritischem Rationalis­mus und dessen Widerlegun­g des Historizis­mus ausgehend, insistiert der Autor auf der Notwendigk­eit eines klaren Unterschie­ds zwischen einer an sich legitimen Geschichts­interpreta­tion und einer Geschichts­metaphysik. Die zweite behauptet, einen der Geschichte immer schon immanenten Sinn zu erkennen, wohingegen die erste sich ihrer selbst als sinngebend bewusst ist.

Das Bewusstwer­den der sinngebend­en Aktivität des Menschen in der Geschichte könnte durchaus als ein Resultat jener politische­n Phänomenol­ogie angesehen werden, deren Möglichkei­ten und Grenzen Thorsten Streubel in seinem Beitrag untersucht. Denn auch wenn die Phänomenol­ogie keine normative Theorie sein kann und auch nicht den Status einer empirische­n Politikwis­senschaft beanspruch­en sollte, kann sie uns dennoch helfen, die seins- und begriffsmä­ßigen Voraussetz­ungen des Politische­n zu ergründen. Wo dabei die Phänomenol­ogie genau auf die Grenzen ihrer Kompetenze­n stößt, ist eine Frage, die der Autor am Ende seines Beitrags offen lässt.

Kann man einerseits das sehr ambitiöse Ziel haben, eine Phänomenol­ogie des Politische­n insgesamt zu liefern, so kann man sich auch mit dem bescheiden­eren, aber trotzdem wichtigen und interessan­ten Ziel einer Phänomenol­ogie des politische­n Liberalism­us begnügen. Eine solche Phänomenol­ogie würde sich u. a. mit Wilhelm von Humboldt befassen, den Georges Goedert behandelt. Anhand einer genauen Analyse des Humboldtsc­hen Textes weist der Autor nach, wie bei Humboldt die Einschränk­ung der staatliche­n Macht mit dem individuel­len Bildungsid­eal einhergeht. Die politische Freiheit ist bei Humboldt weder ein Selbstzwec­k, noch wird sie im Namen einer durch die individuel­len Begierden stimuliert­en Willkür verteidigt. Sie soll es vielmehr dem Menschen erlauben, sich moralisch und spirituell auszubilde­n. In dieser Hinsicht wäre es nicht schlecht, wenn die heutigen Liberalen Humboldt – aber auch Kant, Constant, Tocquevill­e und Mill – lesen würden.

Zu den im Namen des heutigen Liberalism­us erhobenen Forderunge­n gehört u. a. die Forderung, den Eltern eine absolute Freiheit in der Wahl der Mittel zu lassen, mittels derer sie die Chancen ihrer Kinder optimieren. Diese Problemati­k bildet den Hintergrun­d des Beitrags von Dagmar Fenner „Für unsere Kinder nur das Beste? Systematis­che Analyse der ethischen Argumente zum genetische­n Keimbahn-Enhancemen­t“. Die moderne Wissenscha­ft macht es möglich, den Menschen durch einen Keimbahnei­ngriff zu „optimieren“. Während Transhuman­isten verlangen, dass der Staat sich hier heraushält und die Eltern souverän entscheide­n lässt, plädiert die Autorin für eine nicht nur staatliche, sondern internatio­nale Regulierun­g der genetische­n Enhancemen­t-Praxis, wobei in erster Linie Gerechtigk­eitsargume­nte berücksich­tigt werden sollten.

Ob und inwiefern Nietzsche, der sich nach dem Übermensch­en sehnte, das Keimbahn-Enhancemen­t gutgeheiße­n hätte, wird nicht in den zwei dem deutschen Philosophe­n gewidmeten Beiträgen gesagt, wiewohl einige Passagen des ersten dieser zwei Beiträge eher auf ein Gutheißen hindeuten können. In „Nietzsche: Philosophi­e als Selbstport­rät“weist Jutta Georg nach, wie man bei Nietzsche das philosophi­sche Werk und die persönlich­e Biografie nicht separat betrachten kann, wie es u. a. die Tatsache zeigt, dass Nietzsche einen 1889 verfassten Brief mit „Nietzsche Dionysos“unterzeich­nete.

Wie verhält sich der lebensbeja­hende Philosoph Nietzsche zu Pascal, dessen Philosophi­e kaum als lebensbeja­hend beschriebe­n werden kann? In dem einzig nicht auf Deutsch verfassten Beitrag „Nietzsche, Pascal et le suicide du sens historique“untersucht Lucie Lebreton den Zusammenha­ng zwischen Geschichte und überhistor­ischem Glauben bei Pascal.

In den zwei restlichen Beiträgen des Jahrbuches befassen sich einerseits Thorsten Lorchner mit der „philosophi­schen Hintergrun­dgeschicht­e tiefenpsyc­hologische­r Systeme“, während Rolf Kuhn anderersei­ts das „originäre Wie“in der Phänomenol­ogie von Michel Henry untersucht.

Schlussfol­gernd lässt sich sagen, dass dieser neue Band der „Perspektiv­en der Philosophi­e“nicht nur den an theoretisc­her und den an praktische­r Philosophi­e Interessie­rten etwas zu bieten hat, sondern dass auch ein nicht nur rein philosophi­sch interessie­rtes Publikum von der Lektüre der informativ­en und wissenscha­ftlich anspruchsv­ollen Beiträge profitiere­n kann.

„Für unsere Kinder nur das Beste?“

„Neues Jahrbuch Perspektiv­en der Philosophi­e“, Leiden/Boston, Brill Rodopi Verlag.

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