„Wilde Bestien“und „Propheten“
Die Wiener Albertina zeigt Meisterwerke aus einer der bedeutendsten privaten Kunstkollektionen, der Sammlung Hahnloser aus Winterthur in der Schweiz.
Eine Bronze-Statue, „Kleine Venus“von Pierre-Auguste Renoir (1841-1919), in der Mitte, an der linken Wand die Porträts des Sammlerpaars Arthur Hahnloser (1870-1936) und Hedy Hahnloser (18721952), an den weiteren Wänden Bilder von Pierre-Auguste Renoir (1841-1919), Édouard Manet (1832-1883) und Vincent van Gogh (18531890). Schon der erste Raum der Ausstellung „Van Gogh, Cézanne, Matisse – Die Sammlung Hahnloser“in der Wiener Albertina lässt die Herzen von Kunstfreunden der Klassischen Moderne höher schlagen. 80 Werke aus der ursprünglich 500 Gemälde, Papierarbeiten und Plastiken umfassenden Sammlung Hahnloser werden gezeigt. Dazu kommen 20 Objekte aus der Albertina, die vorwiegend aus einer anderen bedeutenden Privatsammlung, der Sammlung Batliner, stammen. Das Interesse der Besucher an der Schau ist trotz der Covid-19-bedingten Einschränkungen sehr groß.
In der föderalistischen Schweiz kümmern sich traditionell nicht staatliche Stellen um das Anlegen von Kunstsammlungen, sondern vermögende Privatpersonen und lokale Museen. Der aus einer wohlhabenden Fabrikantenfamilie stammende Augenarzt Arthur Hahnloser und seine kunstsinnige Frau Hedy, eine ausgebildete Malerin, sammelten zunächst für ihr eigenes Domizil, die Villa Flora in Winterthur. Durch Auftragswerke und Schenkungen an Museen förderten sie aber darüber hinaus die Kenntnis über die klassische Moderne Europas in der Schweiz. Ihre Sammlung entstand zwischen 1907 und 1936. Sie umfasste Klassiker der Moderne wie Manet, Cézanne, Monet, Van Gogh, Renoir, Gauguin und Toulouse-Lautrec, bekam aber ihre besondere Note im engen Austausch mit jüngeren Künstlern, mit denen die Sammler freundschaftliche Verbindungen eingingen. Besonders hervorzuheben ist hier Félix Vallotton, der Arthur und Hedy Hahnloser 1908 porträtierte und das Sammlerpaar mit mehreren Künstlern in Kontakt brachte.
Neben diesen Porträts fällt im ersten Raum die „Amazone“von Édouard Manet auf, die Darstellung einer Frau im schwarzen Reitkostüm. Einen noch stärkeren Eindruck hinterlassen hier aber Werke von Vincent van Gogh: „Verblühte Sonnenblumen“, „Der Sämann“und „Das Nachtcafé in Arles“, das scheinbar Ruhe ausstrahlt, aber in der von Van Gogh beabsichtigten Darstellung als Ort erscheinen soll, „wo man sich zerstören, verrückt werden oder ein Verbrechen begehen kann“.
Im zweiten Raum begegnet man Werken großer französischer Maler des späten 19. Jahrhunderts, die nicht sofort Eingang in die zunächst auf jüngere Künstler ausgerichtete Sammlung Hahnloser fanden. Paul Cézanne (1839-1906) ist unter anderem mit den Bildern „Die Dächer“und „Der Bauer“vertreten, Claude Monet (1840-1926) mit einem „Blick auf Vétheuil“, einem „Sturm auf offener See“und „Waterloo Bridge“. Die Kunst von Paul Gauguin (1848-1903), der mit seinem an der mittelalterlichen Cloisonné-Technik orientierten Synthetismus die äußerliche Natur, die eigenen Gefühle und eine auf Details verzichtende, die Linie betonende Form zu vereinen suchte, findet sich in den Bildern „Bretonin“und „Äpfel mit einer Schale“. Unverkennbar impressionistisch hingeworfen wirkt Pierre-Auguste Renoirs „Strand von Guernsey“.
Zum typischen Bestand der Sammlung Hahnloser gehören Maler, die Kunstkritiker den Gruppen der Fauves und Nabis zuordnen. Die Fauves verdankten ihren Namen dem Umstand, dass vor allem ihre frühen Werke neben klassischer Kunst wie „wilde Bestien“wirkten, die Nabis charakterisierte man mit dem hebräischen Wort für Propheten.
Den dritten Raum, der besondere Farbenfreude ausstrahlt, beherrschen die Fauvisten Henri Matisse (1869-1954), Henri Manguin (1874-1949) und Albert Marquet (1875-1947). Matisse, der Licht und die Farben des Orients liebte, erregte 1905 mit „Orgien reiner Farbtöne“Aufsehen. Am Beginn seiner Rückkehr zu einem Malstil mit strenger, geometrischer Flächengliederung steht die „Frau in Grün“(1917). In späteren Werken – wie „Das gestreifte Kleid“(1938) – erweist sich Matisse bereits nahe an der Abstraktion.
Redon, der Vater des Symbolismus
Als häufigsten Gast in der Villa Flora bezeichnet die Ausstellung Henri Manguin, der als Gemäßigter unter den Fauves gilt. Vom Schöpfer der Gemälde „Akt unter den Bäumen“und „Der Mittagsschlaf“wünschte sich Hedy Hahnloser ein Bild, das ihre Kinder und ein Stück ihres Gartens darstellte. Auf dem Ölgemälde „Hans und Lisa Hahnloser“(1910) sieht man den Sohn lesend auf dem Fensterbrett, davor die Tochter an einem Tisch.
Albert Marquet, auf dessen Bildern der Spätimpressionismus die fauvistischen Farborgien mildert, ist vor allem für seine Hafen- und Flusslandschaften bekannt. Neben Darstellungen von Le Havre bietet die Ausstellung auch seinen Blick auf Notre-Dame in Paris und auf einen Provinzbahnhof.
Ganz und gar nicht der Freilichtmalerei, sondern den Innenräumen des Pariser Nachtlebens frönte als scharfer Beobachter Henri Toulouse-Lautrec (1864-1901), der seine Themen in den Vergnügungsetablissements auf dem Montmartre fand. Im vierten Raum der Schau ist eine Auswahl dessen zu sehen, was er auf Gemälden, Zeichnungen und Lithographien an intimen Szenen festhielt.
Als typisches Werk des Mentors der Nabis, Odilon Redon (1840-1916), gilt das Bild „Das rote Boot“, auf dem eine kleine Figur eine Barke über ein stilles Gewässer steuert. Seine rätselhaften Visionen, etwa „Der Traum“, beein
druckten Hedy Hahnloser sehr. Dieser kühne Wegbereiter der klassischen Moderne ist als Vater des Symbolismus anzusehen. Für sein Alter malte Redon erstaunlich modern, was ein amüsantes Missverständnis auslöste. Als Hedy Hahnloser den Künstler in seinem Atelier aufsuchen wollte, ihr dort ein alter Mann die Tür öffnete und sie nach dessen Sohn verlangte, erklärte ihr Redon lächelnd: „Der Maler bin ich.“
Der erste Ankauf von Arthur und Hedy Hahnloser, mit dem sie ihre Sammlung begannen, war das – in dieser Albertina-Schau nicht gezeigte – Gemälde „Die Badenden / Le bain turc“(1907) von Félix Vallotton (1865-1925), das damals als skandalös empfunden wurde. In Winterthur erregte das Bild als „degeneriertes Modell“großes Aufsehen und landete bald in einem oberen Stockwerk, wo es nur wenige zu Gesicht bekommen konnten. An einen der größten Skandale der Kunstgeschichte, die Präsentation von Édouard Manets „Olympia“im Jahr 1863, knüpfte Vallotton in seinem Bild „Die Weiße und die Schwarze“an, das eine nackte weiße Frau mit einer daneben sitzenden dunkelhäutigen Frau in Beziehung setzt. Klar abgegrenzte Flächen dominieren das Bild „Entführung der Europa“: die nackte Europa, der Stier, das Meer, der Himmel, eine Wolke, eine ferne Küste.
Vallotton, dem wohl am engsten mit der Familie Hahnloser verbundenen Künstler, ist ein ganzer Raum gewidmet. Viel Platz in seinem Schaffen nehmen Landschaften ein, die er an Ort und Stelle nur mit Bleistiftskizzen festhielt und dann aus der Erinnerung im Atelier malte. Auf seinen Bildern hielt er sehr unterschiedliche Motive fest, makaber wirkt das Gemälde „Der Erstochene“, sozialkritisch „Der violette Hut“, den eine junge Frau trägt.
Édouard Vuillard (1868-1940) und Pierre Bonnard (1867-1947) gehörten wie Vallotton zur Gruppe der Nabis, deren Bilder von strengen Konturen und dekorativer Flächigkeit gekennzeichnet sind. Vuillard, vom Schriftsteller André Gide „intimiste“genannt, übernimmt in der Regel die Rolle eines zurückhaltenden Beobachters, etwa bei der Szene „Damespiel in Amfréville“.
„Bootsfahrt auf dem Meer“, „Das rot-weiße Tischtuch“und „Die Schlittschuhläufer“sind nur drei imposante Bilder aus dem OEuvre von Pierre Bonnard, der gerne eine bestimmte Farbigkeit – etwa das orange Kleid der Eisläuferin – in den Vordergrund rückt.
Wegen einer Tuberkulosekrankheit von Hedy erwarben die Hahnlosers 1923 die Villa Pauline in Cannes an der Côte Azur, wo sie ihren Künstlerfreunden nahe sein konnten. Zu diesen zählte auch der Bildhauer Aristide Maillol (1861-1944), der in der Ausstellung mit drei eindrucksvollen Bronzeplastiken – „Flora“, „Pomona“und „Venus mit Halskette“– vertreten ist, die im Garten der Villa Flora in Winterthur so inszeniert wurden, dass der Künstler begeistert erklärte, es sei die „ewige Bestimmung“dieser Statuen, an diesem Ort zu „leben“.
Mit einem Raum für den Schweizer Künstler Ferdinand Hodler (1853-1918), einen der ersten Künstlerfreunde des Ehepaares Hahnloser, schließt die Schau in der Albertina. Hodlers Durchbruch erfolgte 1904 bei der XIX. Ausstellung der Wiener Secession. Ins Auge springen eines seiner vielen Selbstbildnisse, auf das Wesentliche konzentrierte Landschaftsbilder, sein „Blumenpflückendes Mädchen“und vor allem der „Blick ins Unendliche“, der fünf Frauen in blauen Kleidern vor einem gekrümmten Horizont darstellt.
Die Sammlung Hahnloser, durch Schenkungen an Museen bereits etwas vermindert, ging nach Hedys Tod im Jahr 1952 an ihre Kinder Hans und Lisa. Heute befindet sie sich zu einem großen Teil in der 1980 gegründeten Hahnloser-Jaeggli-Stiftung, zu einem ebenso großen Teil aber auch noch im Privatbesitz der Familie. Die Villa Flora wurde 2018 dem Kanton Zürich geschenkt, sie soll 2023 als dritter Standort des Kunst-Museums Winterthur der Öffentlichkeit zugänglich sein.
Van Gogh, Cézanne, Matisse – Die Sammlung Hahnloser, Albertina Wien, bis zum 15. November 2020. www.albertina.at
Félix Vallotton: „Die Weiße und die Schwarze“, 1913.