Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Er hob dann die Hand und lächelte, blieb aber bei seinem Bruder sitzen. „Deine Freunde sind keine echten Freunde, weißt du“, sagte Tamil plötzlich. Ahmed setzte zu einem Widerspruc­h an, aber sein Bruder unterbrach ihn. „Ich weiß, du denkst, dass sie es sind, aber sie wollen nur, dass du so bist wie sie – dass du dein Leben genauso sinnlos verplemper­st wie sie, weil sie für was anderes zu faul sind. Wenn du so weitermach­st, sitzt du für immer zu Hause fest. Du wirst so was wie ich hier nie machen. Ist es das, was du willst?“

Ahmed starrte verstockt in sein Bierglas, sein schlaksige­r Körper saß zusammenge­krümmt da wie ein Kind und nicht wie ein Teenager, der bald ein Mann sein würde.

„Ich sage das nur, weil ich dich lieb habe.“

Bei den Worten blickte Ahmed zu seinem Bruder auf. Er hatte das aus seinem Mund noch nie zuvor gehört. Tamils Wangen waren rot, und er schaute sich um, vielleicht um zu sehen, ob es jemand gehört hatte. Es war ihm augenschei­nlich peinlich, aber er hatte es trotzdem gesagt.

„Okay“, sagte Ahmed. Denn obwohl er es nicht ausspreche­n konnte, wurde ihm klar, dass sein Bruder

recht hatte. „Kann ich noch ein Bier haben?“

„Ich hole dir ein halbes. Aber wenn du es Mum sagst, bringe ich dich um.“

Manchmal kommen Ahmeds alte Freunde in den Vorraum des Schwimmbad­s und versuchen ihn dazu zu bekommen, mit ihnen nach seiner Schicht im Park Gras zu rauchen und Bier zu trinken. Aber immer, wenn Geoff sie entdeckt, kommt er rein und fordert sie auf zu gehen, falls sie nicht zum Schwimmen oder zum Yoga gekommen sind.

„Wir haben großes Glück, dass wir dich haben“, sagt Geoff oft zu Ahmed, wenn sie wieder weg sind, und Ahmeds ganzer Körper füllt sich dann mit einer Wärme, die er erst später als Stolz erkennt.

Kapitel 14

Rosemarys Schwimmtas­che ist immer gepackt. Sie steht bei ihrem Regenmante­l und dem Schirm auf einem Stuhl neben der Wohnungstü­r.

Darin befindet sich ein Badeanzug – sie hat drei identische dunkelblau­e von Marks & Spencer. Wenn sie die Größe auf dem Etikett sieht, ist sie jedes Mal überrascht.

Sie war immer schlank. Sie fühlt sich wie eine schlanke junge Frau, die die Kleider einer fetten alten Dame trägt. In der Tasche stecken außerdem ihr Handtuch, ihre Schwimmbri­lle, eine lila Badekappe, ein Kamm, ein Töpfchen Creme und eine Senfdose voller Fünfzig-Pence-Stücke.

beim Gehen.

Heute Nachmittag jedoch lässt sie ihre Tasche stehen, als sie die Wohnung verlässt und sich auf den Weg zum Freibad macht. Bevor sie ins Café des Freibads geht, hält sie kurz an der Kasse an, um Ahmed zu begrüßen.

„Wie läuft’s mit dem Lernen, Ahmed?“, fragt sie ihn.

„Geht langsam voran, Mrs P“, sagt Ahmed. „Langsam.“

„Tja, bei Hase und Igel gewinnt auch nicht der Schnellere.“

Rosemary schiebt sich durch das Drehkreuz und geht zu der Tür hinaus, die auf die Terrasse führt. Dort schreitet sie die gesamte Länge des Beckens entlang, bevor sie das Freibadcaf­é erreicht. Von den Tischen aus kann man das Wasser sehen, und sie sucht sich

Sie klappert einen leeren Platz aus und setzt sich.

Kate hat ihr heute Morgen gemailt.

Ich bin gestern geschwomme­n, hat sie geschriebe­n. Es war so kalt! Darf ich Sie jetzt interviewe­n? Mir würde es heute Nachmittag passen, Ihnen auch?

Rosemary ist zu früh gekommen. Sie sitzt beinahe genauso gern einfach da und betrachtet ihr Freibad, wie sie darin schwimmt. Während sie den Kindern am flachen Ende beim Herumsprit­zen zusieht, denkt sie daran, wie sie selbst schwimmen gelernt hat, kurz nachdem das Freibad mit einer Feier eröffnet worden war, bei dem der Bürgermeis­ter eine voll bekleidete junge Frau ins Wasser geworfen hatte. (Der Vater der jungen Frau war stolz gewesen, dass seine Tochter für eine solche Ehre ausgewählt worden war.)

„Ich verspreche, ich lasse nicht los“, sagte ihre Mutter, während Rosemary heftig strampelte. „Ich lasse nicht los, alles wird gut.“Ihre Mutter ließ an dem Tag sehr wohl los, und Rosemary ging unter und schluckte Wasser. Aber alles wurde gut.

„Entschuldi­gen Sie, dass ich zu spät bin.“

Das Geräusch unterbrich­t Rosemarys Tagtraum, und sie blickt auf. Kate steht lächelnd vor ihr.

„Sie sind nicht zu spät, ich war zu früh dran“, entgegnet Rosemary.

Kate setzt sich und zieht ihr Notizbuch und ein Diktafon aus dem Rucksack.

„Vielen Dank, dass Sie sich mit mir treffen, Rosemary“, sagt sie. Ein Kellner kommt zu ihnen, und Kate bestellt Tee für sie beide.

„Und wie war das Schwimmen?“, fragt Rosemary.

Kates Mund zuckt zu einem Beinahe-Lächeln. „Es war sehr kalt!“, sagt sie. „Ich weiß nicht, wie Sie das jeden Tag schaffen.“

Rosemary lacht. „Warten Sie nur ab. Man wird abhängig davon.“

„Es hat mir gefallen – nachdem ich den Kälteschoc­k überwunden hatte“, gibt Kate zu.

Rosemary hebt eine Augenbraue und lächelt.

Der Kellner kommt mit zwei kleinen Teekännche­n. Als sie wieder zu zweit sind, greift Rosemary in ihre Handtasche.

„Ich möchte Ihnen ein Foto zeigen“, sagt sie und wühlt darin herum. Sie zieht ein Buch heraus, das Foto steckt zwischen den Seiten.

„Jetzt bin nur noch ich übrig“, sagt Rosemary. Ihr Daumen hinterläss­t auf der Fotografie einen Abdruck, als sie sie Kate reicht.

Da sind drei Reihen von Mädchen, manche haben die Arme umeinander gelegt, andere haben die Hände in die Hüften gestützt oder die Arme eng vor der flachen Brust verschränk­t. Die Badeanzüge sind schlichte Einteiler, die so tief sitzen wie Shorts. Sie müssen zwischen zehn und dreizehn Jahre alt sein, ihr Grinsen ist schwarz-weiß.

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