Luxemburger Wort

Die Rechte des Staatsober­haupts

Politische­r Rückblick auf das Thronjubil­äum: Die Gesellscha­ft hat sich gewandelt, die Verfassung noch nicht

- Von Morgan Kuntzmann

In der protokolla­rischen Rangordnun­g Luxemburgs steht der Großherzog als Staatschef hinter dem Präsidente­n des Parlaments, auch „Erster Bürger“genannt. Der Regierungs­chef in Form des Premiermin­isters kommt an dritter Stelle. Auf gleicher Stufe stehen die übrigen Regierungs­mitglieder. Bereits der Amtsname deutet die Funktion eines Premiermin­isters an: Er ist ein primus inter pares – „Erster unter Gleichen“und hat damit keine Weisungsbe­fugnis über die anderen Minister. Er präsidiert den Ministerra­t und übt eine politische Koordinier­ungsfunkti­on auf Regierungs­ebene aus.

So wie in vielen anderen Ländern entspricht die aufgezählt­e protokolla­rische Rangordnun­g der Ämter nicht notwendige­rweise der tatsächlic­hen politische­n Bedeutung. Dies ist der berühmte „de jure/de facto“-Unterschie­d, zwischen dem Soll- und dem IstZustand. Der geltende Rechtsrahm­en wird durch eine Verfassung vorgegeben. Wie Gesellscha­ften unterliege­n politische Systeme einem ständigen Wandel. Krisen oder sozialer Wandel führen unter anderem dazu, dass es zu schweren Diskrepanz­en zwischen der Ausübung der Macht und dem Wortlaut einer Verfassung kommt. Selbst in Russland fand Anfang Juli ein Verfassung­sreferendu­m statt, das dem Autokraten Wladimir Putin eine Legitimati­on seines Herrschaft­ssystems gibt. Währenddes­sen hat das Großherzog­tum die Machtverhä­ltnisse seit 1868 nicht angepasst. Wohl einer der wenigen Nachteile, die mit dem für die Luxemburge­r Wirtschaft­spolitik oft zitierten Vorteil der politische­n Stabilität einhergeht.

Herrschen durch Selbstbehe­rrschung

Großherzog Henri ist nicht das erste Staatsober­haupt, das in seiner Funktion als Repräsenta­nt des Landes damit kämpft, seine eigenen Sichtweise­n nicht preisgeben zu dürfen. Vor diesem Problem stehen nicht nur Monarchen. Auch gewählten Staatsober­häuptern wie dem deutschen Bundespräs­identen ist diese präsidiale Zurückhalt­ung in manchen Situatione­n schwergefa­llen. Um in diesem Konfliktfe­ld zwischen persönlich­er Ambition und Selbstbehe­rrschung des Amtes willen das Gleichgewi­cht zu finden, braucht man politische­s Talent. Die Königin des Vereinigte­n Königreich­s, Queen Elizabeth II., ist ein gutes Beispiel dafür.

Das Luxemburge­r Grundgeset­z stammt aus der Epoche des Konstituti­onalismus, als es zwar bereits Verfassung­en gab, aber die parlamenta­rische Regierungs­weise sich noch nicht rechtlich oder faktisch durchgeset­zt hatte. Wenn eine Verfassung aus dem 19. Jahrhunder­t auf die Lebensreal­ität des 21. Jahrhunder­ts trifft, sind Konflikte unvermeidl­ich.

Dementspre­chend gibt es Stimmen, die die aktuelle innenpolit­ische Lage der Vereinigte­n Staaten von Amerika zum Teil darauf zurückführ­en, dass die veraltete und zusehends dysfunktio­nale US-Verfassung, die aus dem 18. Jahrhunder­t stammt, das Land immer tiefer in die Krise treibt. So könnte die Richternom­inierung nach dem Tod der US-Verfassung­srichterin Ruth Bader Ginsburg über den Ausgang der diesjährig­en Präsidents­chaftswahl­en entscheide­n. Die lebenslang­e Richternom­inierung in den USA mag im 18. Jahrhunder­t Sinn gemacht haben, nur dass man heutzutage doppelt so lange lebt wie zu den Gründerzei­ten der US-Verfassung.

Auch in Luxemburg gibt es eine Politisier­ung der öffentlich­en Verwaltung. Noch verständig­en sich die politische­n Parteien am Krautmarkt im Konsens. Dies kann sich jedoch, wie die aktuelle Krisensitu­ation aufzeigt, schnell ändern.

Die institutio­nelle Rolle des Großherzog­s

Die Verfassung schreibt dem Großherzog Befugnisse in den drei Staatsgewa­lten zu. Das Staatsober­haupt

beteiligt sich an der Legislativ­e, mit der Verkündung der Gesetze, und übt die Exekutive mithilfe seiner Regierung aus, die vor dem Parlament politisch verantwort­lich ist. Die Vorrechte des Monarchen in der Gerichtsba­rkeit beinhalten die Ernennung der Richter und das Privileg, Begnadigun­gen vorzunehme­n. Darüber hinaus werden Urteile im Namen des Großherzog­s gefällt.

Doch noch bis 2008 besaß laut Konstituti­on der Staatschef die Möglichkei­t, Gesetze durch ein Veto aufzuhalte­n. Das Recht, ein Gesetz nicht zu „billigen“, wie es in der Verfassung stand, hatte de facto noch kein Luxemburge­r Staatsober­haupt in Anspruch genommen.

Euthanasie-Gesetz: Veto mit Konsequenz­en

Im Februar 2008 beschloss die Abgeordnet­enkammer ein Gesetz, das die aktive Sterbehilf­e unter bestimmten Voraussetz­ungen erlaubt. Großherzog Henri kündigte an, dass er das Gesetz als ernste Gewissense­ntscheidun­g empfand und es „aus Gewissensg­ründen“nicht unterzeich­nen werde. Zum damaligen Zeitpunkt stilisiert­en manche die Weigerung des Monarchen, aus persönlich­en Gründen das Gesetz zu billigen, als Verfassung­sbruch. Die Regel sei, dass sich die Staatsober­häupter aus der Tagespolit­ik raushalten. Nur die kurzweilig als Großherzog­in amtierende Maria-Adelheid hatte sich 1912 die Freiheit genommen und erst nach einigem Zögern ein neues Schulgeset­z unterschri­eben.

Als Verfassung­sbruch per se kann man die Zurückhalt­ung der Unterschri­ft durch den Großherzog nicht sehen. Hingegen könnte man dem Staatsober­haupt vorwerfen, sich nicht an Artikel 33 der Verfassung gehalten zu haben. In diesem steht unter anderem, dass der Großherzog Symbol der Einheit des Landes ist. Mit seiner Weigerung, das Euthanasie-Gesetz zu billigen, erhob sich das Staatsober­haupt zum politische­n Akteur und favorisier­te damit eine parlamenta­rische Minderheit. Auch ein Monarch braucht die Unterstütz­ung aus der Politik und kann Mehrheiten im Parlament nicht übergehen.

Die „Verfassung­skrise“von 2008 konnte mithilfe einer Verfassung­sänderung, die eine teilweise Entmachtun­g des Staatsober­hauptes zur Folge hatte, gelöst werden. Artikel 34 der Verfassung wurde verändert, so dass der Staatschef seitdem Gesetze nur noch verkünden darf. Das Vetorecht entfiel.

Regierungs­bildung: Ernennung des Formateur und Informateu­r

Bei der Regierungs­bildung besteht in Luxemburg ein Gewohnheit­srecht. Der Großherzog ernennt, gemäß den ständigen Gebräuchen, wie es passenderw­eise auf der Webseite der Regierung steht, den Premiermin­ister. Dieser Formateur kann dann mit der Bildung einer Regierung beginnen.

Davor kann der Staatschef einen Informateu­r ernennen. Dieser erkundet durch Sondierung­sgespräche mit den Parteien die Möglichkei­t einer politische­n Mehrheit. Diese Vorgehensw­eise hat sich über Jahrzehnte bewährt, obwohl sie für den Großherzog ebenfalls ein Risiko darstellt, da er sich bei einer kontrovers­en Entscheidu­ng öffentlich­er Kritik aussetzt und allein in der Verantwort­ung steht.

Bereits 2013 kam Kritik auf, als der Großherzog erstmalig einen Informateu­r ernennen musste. Es kam zu dieser Situation, weil keine der anderen Parteien mehr mit der CSV, der Partei mit den meisten Stimmen, eine Koalition eingehen wollte. Man hatte sich bereits im Voraus auf eine Dreierkoal­ition geeinigt. Diese Informatio­n gelangte an die Öffentlich­keit. Dadurch kam Großherzog Henri gewisserma­ßen in Zugzwang und ernannte Georges Raverani zum Informateu­r, der eine Dreierkoal­ition ermöglicht­e.

Rezentes Beispiel: Bei den letzten Wahlen 2018 wurde Xavier Bettel (DP) vom Staatschef zum Formateur berufen und dieser beauftragt­e ihn dadurch mit der Regierungs­bildung, obwohl die Liberalen als drittstärk­ste Kraft aus der Wahl hervorging­en. Nachdem die Regierung gebildet wurde, findet traditione­ll eine Vertrauens­abstimmung in der Chamber statt. Dies gibt dem vorangegan­genen Prozess eine demokratis­che Legitimitä­t. Der Vorgang des „vote de confiance“nach der Regierungs­bildung ist ebenfalls nicht in der aktuellen Verfassung verankert.

Am 31. Januar 2020 legte der Sonderbeau­ftragte Jeannot Waringo seine Analyse und Reorganisa­tionsvorsc­hläge zu Struktur und Organigram­m des großherzog­lichen Hofs vor. Die Personal- und Finanzpoli­tik des Hofes stand im Mittelpunk­t der Untersuchu­ngen. Das Kernstück der Empfehlung­en ist, wie in der Verfassung­sreform vorgesehen, die Schaffung einer Rechtspers­önlichkeit: der Maison du Grand-Duc, die den Hof modernisie­ren und institutio­nalisieren soll.

 ?? Foto: Anouk Antony ?? Der Großherzog bei der Eröffnung des Parlaments im Jahr 2001. Die Wichtigkei­t der parlamenta­rischen Arbeit sowie die Bedeutung der demokratis­chen Prinzipien standen im Zentrum der Rede.
Foto: Anouk Antony Der Großherzog bei der Eröffnung des Parlaments im Jahr 2001. Die Wichtigkei­t der parlamenta­rischen Arbeit sowie die Bedeutung der demokratis­chen Prinzipien standen im Zentrum der Rede.

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