Wie im Kalten Krieg
In Berlin beginnt heute ein Mordprozess, der Auswirkungen haben kann auf das deutsch-russische Verhältnis
Der Kleine Tiergarten in Berlin ist nicht ganz so idyllisch, wie sein Name vermuten lässt. Zwar ist er eine Art grüne Insel mittendrin, im Kiez namens Moabit, und keine 200 Meter entfernt fließt südlich die Spree. Nicht sehr viel weiter östlich aber liegt ein großes Gefängnis – und nicht nur deshalb hat der Kleine Tiergarten keinen guten Ruf. Hier treffen Drogendealer gern ihre Kunden. Trotzdem strich die Berliner Polizei 2018 den Park aus ihrer Liste kriminalitätsbelasteter Orte.
Im Sommer darauf, exakt am 23. August, einem heißen Tag, aber kommt mittags um fünf Minuten vor zwölf der Georgier Selimchan Changoschwili im Kleinen Tiergarten zu Tode. Er ist auf dem Weg von seiner Wohnung durch den Park zum Freitagsgebet, als ein dunkel gekleideter Mann auf einem Mountainbike an dem Asylbewerber vorbeifährt, der 1979 als Mitglied der tschetschenischen Minderheit in Georgien geboren wurde – und ihm in den Oberkörper schießt. Der Radler stürzt dabei, rappelt sich hoch, geht zu dem ebenfalls am Boden liegenden Verletzten, richtet seine Waffe erneut auf ihn und feuert zwei weitere Kugeln in dessen Kopf.
Dann fährt er davon, quert die Spree und verschwindet in einem Gebüsch. Er zieht die dunkle Kleidung aus und wirft sie zusammen mit seiner Pistole – einer Glock 26 mit Schalldämpfer, wie sich herausstellen wird – und dem Fahrrad ins Wasser. Auf die angrenzende Straße tritt anschließend ein Mann, der wirkt wie ein typischer Berlin-Tourist: Sandalen, Shorts, Polohemd. Er geht am Ufer entlang zu einem Elektroroller. Doch noch ehe er mit ihm davonfahren kann – wird er festgenommen. Zwei junge Männer haben ihn beobachtet – und die Polizei alarmiert, weil ihnen sein Verhalten seltsam vorkam.
Spuren führen nach Russland
Seitdem sitzt der Mann – bei dem die Polizisten einen russischen Pass auf den Namen Vadim Sokolov finden – in Untersuchungshaft. Er bestreitet die Tat. Und schweigt im Übrigen. Dafür wird im Berliner Regierungsviertel sehr rasch und sehr viel über ihn geredet.
Denn Vadim Sokolov ist nicht nur von Moskau über Paris und Warschau nach Berlin gekommen. Die Rechercheplattformen „Bellingcat“, „The Insider“und das von dem russischen Ex-Oligarchen und Putin-Gegner Michail Chodorkowski finanzierte „Dossier Center“finden heraus: Vadim Sokolov ist in Wahrheit wohl Vadim Krasikow.
Ein Mann, den der russische Staat 2013 via Interpol wegen Mordes an einem Geschäftsmann suchte – den er vom Mountainbike aus in Oberkörper und Kopf schoss. Und dessen Name schon 2007 bei einem Mord nach demselben Muster
in der russischen Republik Karelien aufgetaucht war.
„Bellingcat“teilte seine Erkenntnisse mit den deutschen Behörden. Und die sind inzwischen überzeugt, es mit einer Tarnidentität zu tun zu haben – erfunden vom russischen Geheimdienst FSB mit Wissen des Kreml. Denn Sokolov wohnte nie an seiner angeblichen Adresse und hat erst einen Monat vor seiner Europareise eine Steuernummer erhalten. Und „Bellingcat“und das Magazin „Spiegel“ermitteln mit einer Gesichtserkennungssoftware für Sokolov und Krasikov „Übereinstimmungswahrscheinlichkeiten zwischen 82 und 90 Prozent“. Und Changoschwili, das Opfer? Hat für den „Kampf gegen Russland“gelebt, sagt laut „Spiegel“sein Bruder den deutschen Ermittlern. Der Generalbundesanwalt hat das Verfahren übernommen; Peter Frank ist von einem Auftragsmord für „staatliche Stellen der Zentralregierung der russischen Föderation“überzeugt. Changoschwili kommandierte im zweiten Tschetschenienkrieg antirussische Milizen – weshalb ihn russische Behörden seit 2002 als Terroristen suchten. 2017 bat er in Deutschland um Asyl, erhielt aber nur ein vorläufiges Bleiberecht.
Kreml weist Vorwürfe zurück
Der Kreml bestreitet, irgendetwas mit dem Mord zu tun zu haben. „Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist“, sagt Präsident Wladimir Putin, als er im Dezember 2019 in Paris Angela Merkel trifft. Aber er nennt Changoschwili „Bandit“– was die Bundesanwaltschaft in ihrer Bewertung bestärkt. Seit 2006 erlaubt ein russisches Gesetz, mutmaßliche Terroristen im Ausland zu töten.
Was die deutsche Kanzlerin dem Kreml zutraut, zeigt ihr Besuch am Krankenbett des vergifteten Alexej Nawalny. Und gestern Abend empfängt Merkel die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Im Fall Changoschwili wartet sie ab. Vadim Sokolov-Krasnikov wird ab heute am Berliner Kammergericht der Prozess gemacht. Im Kanzlerinamt wie im Kreml ist klar: Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ist davon mindestens berührt. Und es ist, wie der Kleine Tiergarten, ohnehin kein Idyll gerade.