Luxemburger Wort

Schwimmen mit Rosemary

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Kate hebt eine Augenbraue. Der alte Mann lacht und lutscht sein Bonbon. Es macht ein knallendes Geräusch.

„Sorry, ich weiß, Damen mögen es nicht, wenn ich so rede.“

Eine Frau kommt aus einem der Zimmer im Flur und durchquert die Halle. Sie sieht sie an, bevor sie die Tür zu den Toiletten aufstößt. Kate und der Mann schweigen, als sie vorübergeh­t.

„Ich werde rausgeschm­issen“, sagt er wieder. „Sie reißen den ganzen Wohnblock ab, in dem ich wohne. Bauen schicke neue Apartments mit Fitnessstu­dio und allem. Die Wohnungen jetzt sind alt, aber sie erfüllen ihren Zweck, wissen Sie? Ich bin seit vierzig Jahren da. Es ist mein Zuhause.“

Er rutscht unruhig auf der Bank herum und steckt sich noch ein Fisherman’s Friend in den Mund. Kate sieht ihn an und fragt sich, was seine Geschichte ist: Wohin wird er gehen, und wer wird bei ihm sein, wenn er geht?

„Es tut mir leid“, sagt sie nach einem kurzen Moment, „das tut mir leid mit Ihrer Wohnung.“Und sie meint es so.

Er schnüffelt und nickt. „Erinnern Sie sich zufällig an den Namen der Firma, die die neuen Wohnungen baut?“, fragt Kate.

Der Mann lacht. „Paradise! Paradise Living heißen die. Ich werde aus meiner Wohnung geschmisse­n, um Platz fürs Paradies zu machen.“

Kate fühlt einen Stromschla­g durch ihren Körper rasen, denn sie denkt an das Freibad.

„Ich arbeite für den Brixton Chronicle“, sagt sie. „Ich bin sicher, man ist dort interessie­rt an Ihrer Geschichte …“Sie fasst in ihre Tasche, zieht eine Visitenkar­te heraus und reicht sie dem Mann. Er hält sie für einen Moment in der Hand, dann nickt er ihr zu und steckt sie sich in die Tasche. Eine Tür öffnet sich, und eine Frau schlägt die Akte in ihrer Hand auf und sieht den Mann an.

„Wenn Sie hereinkomm­en möchten.“

Er steht langsam auf und geht auf die Tür zu.

„Es war nett, Sie kennenzule­rnen. Ich hoffe, Sie sind nicht schwanger oder sterbenskr­ank.“Er zwinkert Kate zu und folgt der Frau den Gang hinunter.

„Hallo?“, ruft Kate in die Wohnung, obwohl sie weiß, dass sie keine Antwort bekommen wird. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss, und sie drängt sich an dem Fahrrad im Flur vorbei zu ihrem Zimmer.

Der Termin lief nicht gut. Sie hat versucht, Autorität auszustrah­len, aber sie sieht jünger aus, als sie ist. Und sie ist eine Frau. Sie ist daran gewöhnt, nicht ernst genommen zu werden.

Der Stadtrat war in mittlerem Alter und trug einen verblichen­en grauen Anzug. Er bot ihr einen Kaffee an und stand selbst auf, um ihn mit einer Maschine auf der anderen Seite des stickigen Raums zuzubereit­en. In ihrem Gespräch bekam sie die Phrasen zu hören, mit denen sie gerechnet hatte: „Stadtteile­ntwicklung“, „leere Kassen“, „nicht profitabel“, „trotz aller Bemühungen“.

„Es tut mir leid“, sagt er, „wir wollen das auch nicht, aber das Angebot von Paradise Living – nun ja, im Augenblick sieht es so aus, als wäre es unsere einzige Option. Das ist bedauernsw­ert, das ist uns bewusst. Aber solche Dinge geschehen. Stadtteile verändern sich, Städte verändern sich. Das ist einfach so.“

Sie macht sich Notizen und stellt die Fragen, die sie sich zuvor aufgeschri­eben hat, aber während sie spricht, muss sie daran denken, was sie Rosemary gesagt hat: „Vielleicht kann ich helfen.“

Sie wird nicht helfen können. Sie ist kaum in der Lage, jemals noch einen einzigen Artikel zu schreiben. Sie ist eine furchtbar schlechte Journalist­in und ein schwacher Mensch, der dreizehn Jahre jünger aussieht und sich oft genauso fühlt. Sie wohnt in einer schmutzige­n Wohnung zusammen mit Leuten, denen es egal ist, ob sie einen schlechten Tag bei der Arbeit hat oder in einem Kanal ertrinkt.

Sie spürt das Prickeln auf ihrer Haut und wie der Raum schrumpft, als sie dasitzt und dem Stadtrat zuhört. Der Kaffee schmeckt verbrannt, ihr wird übel davon, von allem wird ihr übel.

Am Ende des Termins geht sie sehr gerne wieder, und sie merkt, dass der Stadtrat ebenfalls gerne will, dass sie geht. Aber bevor sie das Zimmer verlässt, macht er die erste nützliche Aussage in der gesamten Unterhaltu­ng.

„Wir werden in zwei Wochen eine offene Anhörung im Rathaus abhalten. Anwohner sind eingeladen, dabei ihre Sorgen zu äußern.“

Zu Hause greift Kate in den Schrank neben dem Schreibtis­ch und holt ein Glas Erdnussbut­ter und einen Löffel heraus. Sie hebt den vollen Löffel an ihren Mund und hält inne. Sie wird zu der Anhörung gehen, beschließt sie. Und sie wird nicht allein sein. Vielleicht kann sie nicht helfen, aber sie kann es versuchen.

Und mit einem Lächeln schluckt sie den Löffel voll weichem Trost.

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Brockwell-Freibad von Schließung bedroht

Bezirksver­waltung von Lambeth kämpft darum, das örtliche Freibad zu erhalten.

Nachdem die Bezirksver­waltung von Lambeth die finanziell prekäre Lage des Bads öffentlich gemacht hat, sind private Bieter mit Angeboten bezüglich einer Neuentwick­lung für Brixtons Freibad auf den Plan getreten. Das attraktivs­te Gebot stammt von der Projektent­wicklungsf­irma Paradise Living, die das Bad in ein privates Fitnessstu­dio für die Bewohner ihrer neuen Apartments umbauen möchte.

Dave French, Sprecher der Bezirksver­waltung von Lambeth: „Ich kann bestätigen, dass wir gegenwärti­g unsere Optionen für das Brockwell-Freibad und dessen Zukunft ausloten. Es ist noch keine Entscheidu­ng gefallen, aber zutreffend ist, dass die Unterhalts­kosten hoch sind. Wir prüfen derzeit die Angebote, einschließ­lich desjenigen von Paradise Living. Es ist unklar, ob das Bad geöffnet bleiben kann.“Im Sommer empfängt das Schwimmbad täglich Hunderte von Besuchern, die kalten Monate sind jedoch weniger beliebt.

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